Gedanken für den Tag

von Norbert Mayer, Leitender Redakteur im Feuilleton der Tageszeitung "Die Presse". "Seit heute, aber für immer ..." - Zum 100. Geburtstag von Christine Lavant. Gestaltung: Alexandra Mantler

Verstehen
Noch hat kein Mensch den andern je erkannt.
Noch gab's kein Herz, das zu dem andern fand,
Denn, zwischen Mensch und Mensch ragt eine
Scheidewand!

Mag auch mancher viel verstehen,
Die Scheidewand, sie bleibt bestehen
Und niemals lässt sie uns ins Reich des andern sehn.

Drum sehe jeder, wie er sich allein genügt,
Wie er allein das herbste Leid besiegt
Und trotz des Einsamseins nicht unterliegt.

Mit dem Text "Verstehen" trat eine 18-Jährige aus dem Lavanttal 1933 erstmals als Dichterin an die Öffentlichkeit. Zwei ihrer Gedichte wurden im Unterhaltungsteil der Wochenzeitschrift "Unterkärntner Nachrichten" veröffentlicht. Die Autorin zeichnete mit Christl Thonhauser. Das Honorar enttäuschte sie. Es bestand aus einem Gratisabonnement und Schreibmaterial, ein "gänzlich unrentables Beginnen", wie sie schrieb.

Aber auch das Gedicht, ist ehrlich gesagt, enttäuschend. Grässlich, könnte ein übelmeinender Kritiker sagen, ein schwaches Echo romantischer Reimerei. Sätze wie "Mag auch mancher viel verstehen, / Die Scheidewand, sie bleibt bestehen" wirken platt. Sie habe, gesteht das aus ärmlichen Verhältnissen stammende Mädchen, aus lauter Verlassenheit "drauflos gedichtet, dass es ein Jammer war".

Thonhauser wollte Dichterin werden, selbst unter widrigen Voraussetzungen. Die Hauptschule blieb ihr verwehrt, der lange Weg stellte sich für die häufig an schweren Krankheiten Leidende als zu beschwerlich heraus. Früh musste sie ihren Lebensunterhalt selbst verdienen, vor allem durch Stricken. Daneben las sie viel und erfand Geschichten.

In einem aber ist "Verstehen" bereits bemerkenswert, programmatisch gar - in der Radikalität des Zweifels. "Zwischen Mensch und Mensch ragt eine Scheidewand!" Christine Thonhauser schreibt Gedichte, die ans Existenzielle rühren. Das Gefühl der absoluten Einsamkeit wird diese Poetin Jahrzehnte später in Vollendung immer wieder variieren, verrätselt und mächtig in der Anklage. Eine zornige Prophetin. Aber wer hätte 1933 gedacht, dass diese sentimental gestimmte Jugendliche, die das "herbste Leid" besingt, zu Christine Lavant reifen würde, zu einer bedeutenden Stimme der deutschen Literatur?

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Sendereihe

Playlist

Komponist/Komponistin: Robert Schumann/1810 - 1856
Titel: Papillons op.2 - für Klavier
* Nr.7 Semplice (00:01:20)
Solist/Solistin: Christian Zacharias /Klavier
Länge: 02:00 min
Label: EMI CDZ 762810 2

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