Gedanken für den Tag

von Oliver Achilles, katholischer Theologe. "Wir sind alle Griechen". Gestaltung: Alexandra Mantler

Die Humanisierung der Bestialität

Wenn man durch die Ilias des Homer blättert, stößt man in der Schilderung von Kampfszenen auf furchtbare Details der meist tödlichen Verletzungen der Kämpfer und fragt sich, wie ein derartig gewalthaltiger Text zu einem Grunddokument unserer Zivilisation werden konnte. Ich möchte hier vor einem Kurzschluss warnen:

Der unbestreitbare Höhepunkt der Ilias ist die nächtliche Begegnung von Achilleus und Priamos, in der der greise König von Troja den Mann, der seinen Sohn Hektor getötet hat, um die Herausgabe des Leichnams bittet, damit er ihn bestatten kann. Achilleus erkennt in dem Schmerz des schutzflehenden Feindes, was ihm selbst und seinem eigenen Vater bevorsteht, den er nicht wiedersehen wird. So wird Achilleus, der in seiner rasenden Wut unmenschliche Taten begangen hat, durch diese nächtliche Begegnung humanisiert. Empathie und Mitleid führen ihn zur Anerkennung des Anderen: Der Held wird zum Menschen, als beide Männer, nachdem sie miteinander geweint haben, sich voll Bewunderung ansehen können.

So hängt bei der Bewertung der antiken Texte alles davon ab, ob es uns gelingt, diese Art der Menschlichkeit in ihnen zu finden, die auch uns ein Vorbild sein kann, denn Brutalität, Gewalt und Krieg sind als grauenhafte Wirklichkeit nicht verschwunden. 472 v. Chr. schrieb Aischylos, der als Soldat gegen die Perser gekämpft hatte, eine Tragödie über den Feind, in dem er nicht den Sieg der Griechen, sondern die Katastrophe aus der Perspektive des Feindes erleben lässt. Aischylos weiß, auch das sind Menschen, sie empfinden wie wir.

In dieser Tragödie wird über die Schlacht von Salamis gesagt "dass niemals noch an einem einzigen Tag eine Menge, so groß an Zahl, von Menschen starb". Im Zeitalter der globalisierten Gleichgültigkeit sind solche Zahlen längst alltäglich geworden.

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Sendereihe

Playlist

Komponist/Komponistin: Carl Ditters von Dittersdorf
Textdichter/Textdichterin, Textquelle: Ovid
Gesamttitel: 6 Symphonien nach den "Metamorphosen" von Ovid
* Minuetto con garbo - 3.Satz (00:03:52)
Titel: Symphonie in C-Dur "Die vier Weltalter" nach den Metamorphosen von Ovid
Orchester: Cantilena
Leitung: Adrian Shepherd
Länge: 02:00 min
Label: Chandos 8564

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