Gedanken für den Tag

10. November 2015, 06:56

1987 reiste ich erstmals nach Indien. Zuerst als Studentin, Forscherin, Universitätslektorin und heute als entwicklungspolitische Referentin der Dreikönigsaktion, dem Hilfswerk der Katholischen Jungschar, begegne ich Menschen in ihren unterschiedlichsten Lebenswelten.

Mitunter gelingt einer Fremden der Brückenschlag zwischen konträren Welten, der in der eigenen Gesellschaft nicht leicht zu bewerkstelligen wäre. So spielt man an einem Abend in der Gesellschaft gut situierter Mittelstandsbürger am Universitätscampus in Delhi Teen Pati, ein traditionelles Kartenspiel, das zu Diwali von Jung und Alt begeistert gespielt wird. Am nächsten Morgen schon sitzt man vor den Plastikunterkünften der Müllsammlerinnen.

Ich schaue einem Buben zu, wie er Feuerwerkskörper, die von Diwali übrig geblieben sind, entzündet. Für kurze Momente tanzen die Feuerfunken des Feuerkreisels in seinen Augen. Abertausende Male hat sich dieses Spektakel in dieser Nacht in den Hochhaussiedlungen der Metropole wiederholt. Doch hier verblasst der Strahlenglanz im Tageslicht. Britannia Colony, ein illegaler Slum mit einem stolzen, nach köstlichen Keksen klingenden, Namen. Der Alltag hat wenig von der Geborgenheit, die der Genuss von Keksen verspricht. Die Frauen sammeln von den Müllhalden und Straßen, was sich noch verwerten lässt: Plastikflaschen, Altmetall, Glas. Die Männer ziehen hinaus und versuchen den noch brauchbaren Müll zu verkaufen. Die Kinder arbeiten mit. Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter nennen diese Menschen die City Makers. Sie sind die Abertausenden, die die Stadt am Leben halten. Sie sind unsichtbar, und ohne Papiere sind sie nicht Teil der Gesellschaft. Im städtischen Alltag wendet man oft den Blick ab. Bertolt Brecht meinte einst: "Und man sieht die im Lichte - Die im Dunkeln sieht man nicht." Im Ritual werden Lichter entzündet, sie helfen zu sehen, hinzusehen.

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Sendereihe

• Gedanken für den Tag

Gestaltung

• Alexandra Mantler