Zwischenruf

von Oberkirchenrätin Ingrid Bachler (Wien)

Ich erinnere mich noch genau an den Vorabend des Nikolaustages in meiner Kindheit: Mit dem Einsetzen der Dämmerung begann die Anspannung und Nervosität bei mir und meiner Schwester zu steigen. Durch die Dunkelheit versuchten wir hinter den Fenstern, die sich immer weiter bewegenden Lichter der Autos, die in der Nachbarschaft von Haus zu Haus fuhren, wahrzunehmen. In den Autos oder manchmal auch auf der Ladefläche eines Lastwagens befanden sich der Nikolaus und die Krampusse, die sich an diesem Abend durch ihre Masken und Gewänder in ungemütliche, Angst einflößende Gesellen verwandelten.

Ich erinnere mich daran, wie meine Schwester und ich gebeten haben, die Haustüre nicht zu öffnen, sie möge doch bitte geschlossen bleiben, wir würden auch auf die Süßigkeiten, Mandarinen und Nüsse verzichten und das ganze Jahr über brav sein. Irgendwann ging dann die Haustüre doch auf und der Heilige Nikolaus in seinem schönen Gewand und seinem Stab schritt als erster herein, dicht gefolgt von den Krampussen. Am Ende waren wir froh, diesen Abend wieder einmal überstanden zu haben.

Mit dem Heiligen Nikolaus ist der Bischof von Myra gemeint, der um 304 bis ca. 345 nach Christus lebte. Vermutlich stammte er aus Patara, einer früheren Stadt in der kleinasiatischen Provinz Lykien, der heutigen Türkei. Er trat ins nahe gelegene Kloster von Sion ein und wurde später zum Erzbischof von Myra geweiht. So wenig wir über sein Leben wissen, umso mehr Legenden gibt es über ihn. Er gilt als der Schutzheilige der Kinder und Armen, der Seefahrer und Kaufleute, der Apotheker und Bäcker und in den USA auch der Bankleute.

In Anlehnung an die Stillung des Sturmes bei den Wundern Jesu, wird vom Heiligen Nikolaus berichtet, dass er ein Schiff samt Mannschaft aus einem schlimmen Unwetter gerettet hat. Die Mannschaft und der Kapitän des Schiffes sind müde geworden, sie haben keinen Mut mehr und nicht die Kraft, das Schiff im Sturm ruhig zu halten. In ihrer Not rufen sie zu Nikolaus, der ihnen hilft. Durch sein Vorbild angespornt, sind sie auch wieder zu neuen Taten bereit.

Dieses Motiv, durch Helfen andere zu motivieren, zieht sich durch mehrere seiner Geschichten. Ich halte es für vorbildlich in unserer Zeit. Der Heilige Nikolaus mit seiner Haltung und Hilfsbereitschaft ist ganz aktuell.

Wenn ich diese Geschichte erzähle, fallen mir die Bilder von überfüllten Flüchtlingsbooten ein, voll besetzt mit Menschen, die verzweifelt versuchen, nach tagelangem Umherirren auf See, das rettende Ufer zu erreichen. Ich denke an die vielen Flüchtlingskinder, die irgendwo unterwegs erschöpft lagern und deren Augen schon so viel nicht Kindgerechtes gesehen haben. Ich weiß, wo der Heilige Nikolaus heute zu finden wäre.

Im Brauchtum unserer Zeit tritt oft ein moralisch-religiös wertender Nikolaus auf, der den Kindern ihre guten und schlechten Seiten vorliest und je nach Betragen auch einmal den Krampus auftreten lässt. Hinter dem moralisierenden Übervater-Nikolaus kommt hier eine Erwachsenenwelt zur Geltung, die den ursprünglichen Gedanken des Heiligen Nikolaus als Fürsprecher und Freund der Kinder umdreht in einen schlechten pädagogischen Helfer der Erwachsenen.

In Zeiten, in denen viele Kinder in Leid, Not und Angst leben müssen, wird der heilige Nikolaus ganz besonders gebraucht. Das ist keine Sozialromantik, sondern die Reaktion auf jeweils bittere Wirklichkeiten. Es gibt in unserer Welt Kindersklaverei, Kinderarbeit, fehlende Schulbildung, Hunger und Krieg. Manches ist Vergangenheit, vieles aber sehr lebendige Realität.

Der Nikolaustag ist nicht der Tag romantischen Brauchtums. Er ist von seinem Wesen her der Tag der Proklamation der Kinderrechte, des Lebensrechts der Kleinen und Schwachen.

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