Zwischenruf
von Prof. Susanne Heine (Wien)
3. Jänner 2016, 06:55
In der Bibel stehen viele schreckliche und grausame Geschichten. Sie erzählen von List und Betrug, von Mord, Totschlag und Hinrichtung, auch von Naturkatastrophen: die Wasser der Sintflut oder der feurige Vulkanausbruch über den Städten Sodom und Gomorrha am Toten Meer; sie erzählen von Leiden und Sterben, vom Seufzen aller Lebewesen unter der Vergänglichkeit. Kein Wunder, dass Religionskritiker die Bibel für kein gutes Buch halten und von der Lektüre dringend abraten. Allerdings haben sie die falsche Brille auf. Denn sie lesen die Bibel als moralisches Erbauungsbuch. So gesehen, kann man nur sagen: Finger weg von der Bibel.
Aber die Bibel ist nicht weltfremd. Ihre Erzählungen stehen mitten im Leben, mitten in einem grausamen Weltgeschehen, an dem sich von damals bis heute offenbar nichts Wesentliches geändert hat. Die Bibel lässt nichts aus von dem, was Menschen einander antun können und von dem, was unser Leben bedroht. Gerade deshalb faszinieren mich die biblischen Geschichten; sie sind realistisch und verbreiten keine Illusionen.
Nun ließe sich einwenden, dazu brauche ich nicht in der Bibel zu lesen und könnte mich auf die tägliche Zeitungslektüre oder einschlägige Internetforen beschränken. Aber dort kann ich nicht lesen, was die Bibel als roten Faden in das grausame Weltgeschehen einflicht, nämlich den Satz, der sich fast hundertmal findet: Fürchte dich nicht!
Dabei geht es nicht um eine direkte Bedrohung in einem konkreten Fall, der entsprechende Reaktionen erfordert, sondern um eine verschwommene Angst. Diese Angst wittert in allem und jedem die große Gefahr, den Untergang von Werten, Moral und Kultur; sie reagiert darauf mit Abwehr und setzt ein Misstrauen in die Welt, das wiederum alles das schürt, was Menschen fürchten. Der Satz: Fürchte dich nicht! will den Kreislauf von Angst, Abwehr und Misstrauen unterbrechen und der Freude am Leben Platz machen. Daher heißt es im zweiten Brief an Timotheus (1,7): "Denn Gott hat uns nicht einen Geist der Furcht gegeben, sondern den Geist der Kraft und der Liebe und der Besonnenheit."
Ein neues Jahr ist immer ein Anlass zurückzuschauen. Dann treten alle die schrecklichen Dinge wieder vor Augen, die geschehen sind, und schüren die Furcht vor Wiederholungen. Daher flicht die Bibel noch einen weiteren Satz in das Weltgeschehen ein: "Niemand, der die Hand an den Pflug legt und zurückschaut, eignet sich für das Reich Gottes"; so jemand ist für die Zukunft nicht tauglich (Lk 9,62). "Was zurückliegt, lasse ich liegen, und strecke mich aus nach dem, was vor mir liegt", schreibt Paulus an die Gemeinde in Philippi (3,13). Als anlässlich eines Vulkanausbruchs, so erzählt das Alte Testament, Feuer und Schwefel die Städte Sodom und Gomorrha zerstören, und Lot und seine Familie sich retten können, blickt seine Frau zurück und erstarrt zur Salzsäule (Gen 19).
Jeder furchtsame Blick zurück, jedes Wühlen in den Schrecken der Vergangenheit, jedes Beschwören der "guten alten Zeit", jedes Auflisten und Aufrechnen des Erlittenen, versperrt den Weg nach vorne. Auch die Frage: Warum musste das geschehen? führt nicht weiter, sondern lässt nur auf der Stelle treten und zur Salzsäule erstarren. Mir ist schon klar, dass es nicht leicht ist, zu einer solchen Haltung zu finden, aber in der Welt herrschen nicht nur Katastrophen und der Ungeist verwerflicher Taten, sondern auch der Geist der Liebe und die Kraft der Mitmenschlichkeit. Der Ungeist abscheulicher Taten lässt sich nicht zur Gänze ausrotten, wie autoritäre Maßnahmen das versuchen und damit noch zusätzlichen Schaden anrichten. Und der Geist der Liebe und Mitmenschlichkeit lässt sich nicht erzwingen, aber gewinnen durch Aufmerksamkeit für Erfahrungen, die zeigen, dass es auch anders geht.
Die Bibel ist realistisch und lässt nichts aus von dem, was Menschen einander antun können und von dem, was unser Leben bedroht. Aber sie hat zwei Sätze als roten Faden in das Weltgeschehen eingeflochten: Schau nicht zurück, und: Fürchte dich nicht. Zum neuen Jahr wünsche ich allen, dass dieser rote Faden nicht reißt.