Gedanken für den Tag

11. Jänner 2016, 06:56

Seit einigen Tagen ist das Hintergrundbild auf der Startseite meines Notebooks ein Porträtfoto von Alberto Giacometti. Ich habe es mir installiert, nachdem ich einen 50 Jahre alten Film gesehen hatte, der unmittelbar nach dem Tod des weltberühmten Bildhauers und Malers gedreht worden ist. Freunde und anonyme Passanten sprechen darin über ihre Trauer, und dass eine Lücke klaffe in Paris, seit dieser Mensch aus dem Straßenbild des 14. Arrondissements verschwunden ist. Täglich hatte man ihn, leicht hinkend und mit gesenktem Kopf, in das benachbarte Café gehen sehen und irgendwann spät in der Nacht zurück in sein Atelier. Die meist jungen Leute im Film erzählen von einer großen Wärme, die zu spüren war, wenn er vorüberging. Liebenswürdig war er, auch fremden Menschen gegenüber. Très gentil, très très gentil. Wie er einen anschaute, wenn er für einen Gruß dankte, wenn er sich noch einmal umdrehte, mit einem breiten Wohlwollen im Gesicht.

Wenigstens für ein paar Tage wollte ich dieses Gesicht vor mir haben, während ich sein Leben und seine Kunst in meinem Kopf lebendig werden lassen will. Und so blickt er mich an, wenn ich in der Früh mein Notebook öffne: mit gefurchter Stirn unter dem kräftigen graumelierten Kraushaar, tiefen Kerben um den breit-sinnlichen Mund und mit dem Blick, der sich nicht recht entscheiden kann zwischen Empathie und Selbstzweifel.

Unmittelbar bevor Giacometti am 11. Jänner 1966 im Krankenhaus von Chur an einer Herzmuskelentzündung starb, soll er zu den Angehörigen gesagt haben: "Also dann bis morgen!".

Ich möchte ihm in dieser Woche jeden Tag eine Frage stellen. Heute frage ich ihn: Denken Sie gerne an ihre Kindheit, Giacometti? Nein, antwortet er - ein Jahr vor seinem Tod. Meine Kindheit ist jetzt. Denn jetzt erst lerne ich, wie ich das machen muss, was ich machen will.

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Sendereihe

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Gestaltung

• Alexandra Mantler