Gedanken für den Tag

von Johanna Schwanberg, Leiterin des Dommuseums Wien. "Der Jenseitsmaler" - Zum 500. Todestag von Hieronymus Bosch. Gestaltung: Alexandra Mantler

Was für ein Getümmel! Ich sehe nichts als Menschen. Sie tragen verschiedenfarbige Gewänder und unterschiedlichste Kopfbedeckungen. Sie reißen die Münder auf und gestikulieren wild herum. Die Menschen drängeln und stoßen. Sie scheinen Lust an dem bevorstehenden grauenvollen Ereignis zu empfinden. Inmitten der johlenden Masse ist Christus dargestellt. Er bricht unter der Last des Kreuzes beinahe zusammen. Er trägt ein blaues Gewand und hebt sich durch den zarten verinnerlichten Gesichtsausdruck von den Grimassen der anderen ab.

Die sogenannte "Kleine Kreuztragung" aus dem Kunsthistorischen Museum in Wien gilt als Frühwerk von Hieronymus Bosch. Sie entstand wohl um die Jahre 1490 bis 1510 und ist Teil eines früheren Altars.

Mich berührt an dieser kleinen Tafel vieles. Besonders aber die Alltäglichkeit. Christus ist nicht wie auf manch anderen Bildern der Kunstgeschichte heroisch erhöht dargestellt. Vielmehr ist der Kreuztragende Teil des volksfestartigen Treibens.

Wie immer bei Hieronymus Bosch kann ich mich an den Details dieses Ölbildes nicht sattsehen. Erschrocken blicke ich etwa auf die Nagelbretter, die mit Seilen an der Hüfte von Christus festgebunden sind. Sie verursachen dem Kreuztragenden bei jedem Schritt zusätzliche Schmerzen. Rätselnd blicke ich auf eine Szene im Vordergrund. Sie zeigt, wie ein Mönch dem reuigen Schächer, der mit Christus gekreuzigt wird, die Beichte abnimmt. Eine Episode, die nicht aus der Zeit der Kreuztragung Jesu stammen kann. Schließlich wurde diese Form der Beichte erst Jahrhunderte später eingeführt.

Bosch aktualisiert also das biblische Geschehen. Er zeigt, dass Mord an Andersgläubigen und Andersdenkenden in den Niederlanden des 16. Jahrhunderts allgegenwärtig war. Und wenn ich mir die weltweiten Geschehnisse des letzten Jahres anschaue, dann stelle ich bedrückt fest: Das Thema besitzt auch heute noch traurige Aktualität. Die Leidensgeschichte Jesu ist kein einmaliges Geschehen, sie findet immer wieder - auch heute und jetzt - statt.

Service

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Sendereihe

Gestaltung

Playlist

Komponist/Komponistin: Oswald von Wolkenstein/um 1377 - 1445
Vorlage: Oswald von Wolkenstein, Handschrift B
Album: OSWALD VON WOLKENSTEIN
Titel: Ich klag - für Fidel, Harfe und Mittelalter Laute
Ausführende: Ensemble für Frühe Musik Augsburg
Ausführender/Ausführende: Hein Schwann /Fidel, Pommer, Sänger
Ausführender/Ausführende: Wolfgang Zahn /Pommer, Schlagwerk, Sänger
Ausführender/Ausführende: Sabine Lutzenberger /Sängerin, Blockflöten, Schalmei, Harfe
Ausführender/Ausführende: Hans Ganser /Sänger 2, Blockflöte, Schlagwerk
Ausführender/Ausführende: Rainer Herpichböhm /Sänger 1, Laute, Chitarra sarazenice, Harfe, Schlagwerk
Länge: 02:00 min
Label: Christophorus CD 74540

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