Gedanken für den Tag

von Wolfgang Müller-Funk, Kulturphilosoph und Essayist. "Dialog: Über das Reden mit Anderen und Anderem". Gestaltung: Alexandra Mantler

"Wenn man den anderen besitzen, ergreifen und erkennen könnte, wäre er nicht der andere. Besitzen, Erkennen, Ergreifen sind Synonyme des Könnens". Dieser Satz des jüdischen Philosophen Emmanuel Levinas bedeutet ein radikales Umdenken unseres Verhältnisses zum anderen. Wir versuchen, andere, vertraute andere, aber auch Menschen anderer Kulturen zu ,er-fassen'. Zwischen dem Akt des Greifens und jenem des Begreifens besteht ein verwandtschaftliches Verhältnis. Aber die Aussage des heute so einflussreichen Denkers, der 1996 in Paris starb, bedeutet auch, dass keine traditionelle Form des Erkennens das irritierende Moment, das der, die und das andere ausmacht, außer Kraft setzen kann. Es lässt sich nicht aus der Welt schaffen. Weil andere anders bleiben, gibt es Phänomene wie die erotische Berührung oder den Dialog. Beide sind Formen des produktiven Verfehlens des anderen Menschen, der unbegreiflich bleibt.

Dieser und diese andere ist darüber hinaus nicht etwas, was mir nachträglich gegenübertritt. Der andere ist zeitlich und logisch das, was uns vorangeht. So wie wir ja auch unser Leben, unsere Existenz nicht uns selbst verdanken, sondern anderen Menschen, nämlich einer Frau, unserer Mutter und einem Mann, unserem Vaters.

Levinas hat Andersheit mit zwei grundlegenden Phänomenen verbunden, mit der Stimme und dem Antlitz. Der Dialog wird nicht von uns initiiert und eröffnet, er ist eine Antwort auf einen Anruf, der an uns ergeht. Das Antlitz ist dadurch charakterisiert, dass es uns anblickt. Es ist wehrlos und es besteht stets die Möglichkeit, auf diese Situation mit Gewalt zu ,antworten', weil dieser andere als eine Zumutung unserer Selbstherrlichkeit begriffen wird.

Im Denken Levinas´ ist das jüdisch-christliche Erbe unübersehbar. Der und die andere versinnbildlicht eine ethische Grundsituation, der sich der Mensch gegenübersieht. Die dialogische Situation, die sich daraus ergibt, ist ethischer Natur. Ethik ist keine Anwendung von bestimmten Regeln und Geboten, sondern eine Grundkonstellation und Möglichkeit des Menschen. Levinas, dessen Familie der Shoah zum Opfer fiel, weiß um die Zwiespältigkeit dieser ethischen Situation. Gewalt und Grausamkeit sind stets die Alternative.

Service

Wolfgang Müller-Funk, "Theorien des Fremden. Eine Einführung", UTB Verlag

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Sendereihe

Gestaltung

Playlist

Komponist/Komponistin: Sergej Rachmaninoff/1873 - 1943
Gesamttitel: Etudes Tableaux für Klavier op.39
Titel: Etude Tableau op.39 Nr.2 in a-moll, lento assai
Solist/Solistin: Vladimir Ashkenazy /Klavier
Länge: 02:00 min
Label: Decca 4000812

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