Naschmarkt

ORF/JOSEPH SCHIMMER

Gedanken für den Tag

von Jan-Heiner Tück, Autor, Theologe und Universitätslehrer. "Ein dunkles Leuchten" - Spuren der Transzendenz in der Gegenwartsliteratur. Gestaltung: Alexandra Mantler

Die Beichte - das "aufgespannte Ohr Gottes"

Wir alle kennen das Gefühl, versagt zu haben. Wohin mit der Schuld? Verdrängen, vergessen, und so tun, als sei nichts gewesen? Die Kunst, es nicht gewesen zu sein, läuft fast immer darauf hinaus, es andere gewesen sein zu lassen.

Dieser Mechanismus der Schuldabwälzung aber kann nur beendet werden durch eine Kultur der ehrlichen Selbstbefragung. Darauf hat die Berliner Schriftstellerin Felicitas Hoppe hingewiesen. In der Beichte sei sie als Kind dem "aufgespannten Ohr Gottes" begegnet, "dem ich straffrei alles anvertrauen durfte, was ich mir ausgedacht hatte. Ich sage ,ausgedacht', weil, was ich dem unbekannten Ohr hinter dem Beichtgitter zu sagen hatte, tatsächlich nichts anderes als ,ausgedacht' war, eine Mischung aus vagem Schuldbekenntnis und Erfindung, der ich als Kind nicht gewachsen war. In Wirklichkeit aber war ich ihr vermutlich nur als Kind gewachsen und später nie wieder, denn die erste Beichte lehrte mich allem voran die Schönheit der Diskretion und den Glauben an die unendlichen Möglichkeiten der Fiktion einerseits und die mögliche Absolution davon andererseits, von der ich schon damals ahnte, dass sie in der öffentlichen Welt niemals zu haben sein würde."

Diskretion - Fiktion - Absolution. Ohne den geschützten Raum der Diskretion gelingt es nicht, sich selbst zum Thema zu machen. Alles, das Wahre und das Erfundene, darf in das aufgespannte Ohr Gottes hineingestammelt werden, und am Ende steht das befreiende Wort der Absolution. Der Geistliche, der es spricht, unterscheidet sich von den Moderatoren jener Talkshows, die ihren Gästen durch findiges Nachfragen die intimsten Geständnisse entlocken, um die Sensationslust der Zuschauer zu befriedigen. Auch unterscheidet sich das stotternde Ich in der Beichte vom Talkshowgast dadurch, dass es um eine persönliche Sprache ringen darf.

Der vor laufenden Kameras Geständige bedient sich gewöhnlich einer Sprache, die von ihm erwartet wird - eine Sprache der Superlative, die den Drachen des Voyeurismus befriedigt. Erst dann aber, wenn wir auch die Schattenseiten unserer Geschichte anschauen und die schwierige Kunst neu lernen, es gewesen zu sein, sind wir befreit von dem Zwang, es andere gewesen sein zu lassen. Ob wir nun an das aufgespannte Ohr Gottes glauben oder nicht.

Service

Felicitas Hoppe, "Und schrieb in den Sand. Über Mündlichkeit und Schriftlichkeit in Religion und Literatur", Vortrag Universität Wien, Hörsaal 47, 17.1.2017, 18.30 Uhr

Universität Wien - Poetikdozentur/Literatur und Religion

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Sendereihe

Gestaltung

Playlist

Komponist/Komponistin: Dave Brubeck/geb.1920
Album: QUIET AS THE MOON
Titel: Looking at the rainbow/instr.
Solist/Solistin: Dave Brubeck /Piano m.Begl.
Ausführender/Ausführende: Matthew Brubeck /Violoncello
Ausführender/Ausführende: Bobby Militello /Flöte
Ausführender/Ausführende: Jack Six /Bass
Ausführender/Ausführende: Randy Jones /Drums
Länge: 02:00 min
Label: Decca 8208452

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