Zwischenruf

Demenz im Zentrum

Sieglinde Pfänder, evangelisch-lutherische Pfarrerin in Oberwart, Burgenland macht sich Gedanken über den Umgang mit Demenzerkrankten. - Gestaltung: Martin Gross

Tante Anni steht sichtlich irritiert vor dem Spiegel. Ich seh, dass sie immer aufgeregter wird und plötzlich anfängt, laut zu schimpfen: "Geh weg! Wer bist du? Verschwinde aus meinem Haus, ich will dich hier nicht haben!" Voller Wucht schlägt sie mit der Bürste gegen den Spiegel und sagt, zu mir gewandt: "Hilf mir, die muss weg! Sofort!"

Ich bin erschüttert. Ich weiß, dass Tante Anni dement ist, aber ich habe nicht gewusst, dass sie ihr eigenes Spiegelbild nicht mehr erkennen kann. Immer wieder erzählen mir Angehörige, wie schmerzlich es ist, wenn die Mutter ständig vergisst, den Herd auszuschalten, der Vater immer öfter einkaufen fährt und dann nicht mehr nach Hause findet, Eltern nicht mehr wissen, dass ihnen ihr Kind gegenübersteht.

Wie bitter ist es, in einer Gesellschaft, die sich fast ausschließlich über Wissen und Leistung definiert, seine kognitiven Fähigkeiten zu verlieren! Wie schwer muss es für die Angehörigen sein, damit zurecht zu kommen, dass autonome, erwachsene Menschen, plötzlich nicht mehr funktionieren. Nicht mehr wissen, wie die Dinge eigentlich gehen, nicht mehr spüren, was sich gehört und was nicht.

Else will nicht mehr zum Frisör gehen. Ihre Tochter findet das total peinlich. Aber Else findet, dass ihre Haare passen, wie sie sind … und auch die alte, verwaschene Kleiderschürze liebt sie heiß und innig. Am liebsten würde sie die gar nicht mehr ausziehen.

Schmunzelnd denk ich auch an eine Frau, die am liebsten im Nachthemd spazieren ging. Ihre Angehörigen haben sich dafür furchtbar geschämt. Sie aber hatte offenbar Spaß daran, sich den Konventionen nicht zu beugen und ein Stück Eigenwilligkeit zu leben. Wir machen das doch auch hin und wieder, oder nicht?

Würden wir uns bewusst machen, dass die Demenz eine Erkrankung ist, wie viele andere auch und der Mensch dabei im Vordergrund bleibt, dann könnte sie das negative Stigma verlieren. Damit würden wir auch die schmerzliche Isolation und Ausgrenzung abmildern, die Angehörige und Erkrankte erfahren, weil das Umfeld meistens verständnislos auf die kognitiven Einbußen reagiert.

"Demenz (im) Zentrum" heißt eine Senioren Wohngemeinschaft bei uns in der Region, die gerade mit diesem Titel bewusst machen möchte, dass das Wohl der Menschen, die dort leben, im Mittelpunkt der Betreuung steht. Das bedeutet, dass das Personal die Bewohner/innen in ihrer Lebenssituation abholt und sich unter Umständen sogar mit dem eigenwilligen, anarchischen Verhalten der Bewohner solidarisiert. So wird durch die angemessene Reaktion auf das Verhalten der Bewohner zusätzliche Verunsicherung abgefedert.

Herr Kuh, zum Beispiel, will gern seinen Spritzer bezahlen nach der täglichen Kaffeerunde. Sr. Jolanda sagt dann gutgelaunt: "Stecken Sie das Geldbörsel wieder ein, Ihre Frau hat das heut schon erledigt."

Hilde spielt gern. Ich habe ein Tiermemory mitgebracht. Sie legt die Karten auf, zeigt auf das Bild einer Hundemutter, an deren Zitzen fünf junge Hunde saugen und sagt: "Schau, das ist meine Familie." Ich nicke zustimmend und sie erklärt mir genau, wen sie sieht.

Die Erfahrung zeigt, dass auch kognitives Training, Bewegungsangebote, Ergotherapie, Physiotherapie, gesunde Ernährung, Logotherapie und Musikangebote demenziell erkrankten Menschen die Möglichkeit geben, sich auch weiterhin als Personen zu erfahren.
Die 90-jährige Margarethe überrascht mich immer wieder, wenn ich zum Gottesdienst ins Altenwohnheim komm. Wenn wir singen, wacht sie aus ihrer Versunkenheit auf, dann entdeckt sie ihre Stimme wieder und singt. Hell und klar und sauber … und alles auswendig. Sie trifft jeden Ton und ich bekomme eine Ahnung von der jungen Frau, die einmal eine klassische Gesangsausbildung erhalten hat.

Selbst wenn ein Mensch vor seinem eigenen Spiegelbild erschrickt, weil er nicht mehr weiß, wie er aussieht oder wer er ist, gilt, dass er ein Ebenbild Gottes ist. So lange wir atmen, liegt genau darin die Würde von uns Menschen begründet. Wir sind geliebte Geschöpfe Gottes und wir bleiben geliebte Geschöpfe Gottes, auch dann, wenn es in unserer Seele dunkel wird, auch dann, wenn wir anfangen zu vergessen, wer wir einmal waren, auch dann, wenn wir nicht so funktionieren, wie die anderen uns haben wollen.

Tröstlich ist für mich der Gedanke, dass wir, zumindest aus evangelischer Sicht, bei Gott mit all den Bruchstücken unseres Lebens geborgen sind, egal wie fragmentarisch dieses Leben auch sein mag.

Sendereihe

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