ORF/URSULA HUMMEL-BERGER
Radiokolleg - Prokrastination
Vom Aufschieben und Verzögern (3). Gestaltung: Sabine Nikolay
6. Dezember 2017, 09:05
Ein Mann sitzt in der Lobby eines menschenleeren Hotels. Draußen tobt der Schneesturm, drinnen klappern die Typen seiner Schreibmaschine. Wochenlang hämmert er Worte aufs Papier. Ein Roman soll es werden, sein größter, der Durchbruch, der Weg zum Erfolg. Sich in seiner Nähe aufzuhalten ist Frau und Kind untersagt.
Doch als der Mann immer seltsamer wird, schleicht sich seine Gefährtin eines Tages zum Manuskript und nimmt die oberste Seite an sich: "Was du heute kannst besorgen das verschiebe nicht auf morgen" steht da. Einmal, zweimal, dreißig Mal untereinander. Ebenso auf der nächsten und nächsten Seite. Es ist alles was ihr Mann in wochenlanger Arbeit zu Papier gebracht hat.
Wir wissen, Stanley Kubricks Filmklassiker "Shining" geht nicht gut aus. Er handelt vom Wahnsinn des Blockierten, vom verhinderten Genie, das an seiner Unfähigkeit leidet, die genialen Gedanken und Phrasen, die seinen Kopf bewohnen, zu Papier zu bringen. Er handelt von "Prokrastination" - im Deutschen "Aufschieberitis" genannt. Der Modebegriff, jahrhundertelang ein Tabu, taucht als scheinbar neues Phänomen in den Feuilletons auf: Die Angst vor der weißen Seite, die Leere im Kopf im Moment des Loslegens, Übelkeit, Gedächtnisausfälle, Sehstörungen, Kreislaufprobleme. Manische Anfälle von Ordnungswut und Hunger - die kreative Blockade kennt viele Ausdrucksformen.
Wenige Menschen bleiben davon verschont, wer intensiv darunter leidet, dessen Leben gerät aus dem Lot. Denn schlechtes Gewissen, Gefühle von Unfähigkeit und Ineffizienz schlagen auf das Gemüt - umso schwerer je leistungsorientierter die Welt ist, in der wir leben. Denn Nichtstun wiegt als schwerer Makel. Und scheinbares Nichtstun wie Nachdenken, Sammeln von Ideen, Lesen von Texten und Artikeln und Planen von Abläufen verursachen Scham und Minderwertigkeitsgefühle. Und geht es dann ans tatsächliche kreative Arbeiten, kommt ständig etwas dazwischen. Morgen, heißt es dann, übermorgen, irgendwann.
Wozu dient sie, die "Aufschieberitis"? Warum verplempern wir die Zeit, bis wir wirklich wichtiges tun? Warum betrifft das Phänomen viele, aber nicht alle Menschen? Was läuft tiefenpsychologisch ab? Welches Problem verbirgt sich hinter dieser Lösung eines gravierenden psychischen Problems?
Ein Radiokolleg aus der Hängematte - als Einladung, anderes ein wenig aufzuschieben ...
Service
Literatur:
Monica R. Basco: Schluss mit Prokrastinieren. Wie sie heute beginnen mit Aufschieben aufzuhören. Übersetzung von Irmela Erckenbrecht
Barbara Gronau, Alice Lagaay (Hg.): Performanzen des Nichtstuns, Passagen Verlag
Byung-Chul Han: Müdigkeitsgesellschaft, Matthes & Seitz, Berlin
Anna Höcker, Margarita Engberding, Fred Rist: Prokrastination. Ein Manual zur Behandlung des chronischen Aufschiebens, Hogrefe Verlag
Thomas Mann: Leiden und Größe der Meister, Fischer Bücherei, Ff am Main und Hamburg, erste Auflage 1957
Herman Melville: Bartleby, der Schreiber, Insel Tb
Matthias Nawrat: Unternehmer, rowohlt Verlag
Kathrin Passig und Sascha Lobo: Dinge geregelt kriegen ohne einen Funken Selbstdisziplin, rororo Sachbuch
Georges Perec: Ein Mann der schläft, diaphanes, o.J.
Georges Perec: Ein Mann der schläft, Film
Hans Werner Rückert: Entdecke das Glück des Handelns, campus Verlag
Hans Werner Rückert: Schluss mit dem ewigen Aufschieben. Wie Sie umsetzen, was Sie sich vornehmen, Campus Verlag
Richard Sennet, Der flexible Mensch, Berliner Taschenbuchverlag
Weiterführende Literatur:
Sigmund Freud: Das Ich und das Es, Fischer Verlag