Zwischenruf

Martin Schenk über Zorn

"Der Zorn des Übergangs". Anhand der griechischen Mythologie zeigt Martin Schenk, Sozialexperte der Diakonie, auf, wie Wut und Zorn positiv verändert werden können. - Gestaltung: Martin Gross

Schwarz sind sie und scheußlich anzusehen, eine abscheuliche Flüssigkeit tropft ihnen aus den Augen. Blutklumpen, die sie mit ihrer Beute verschlungen haben, speien sie wieder aus. Die Erinnyen sprechen nicht, sie ächzen und jaulen. "Bring deines Ingrimms schwarzen Wogensturz zu Ruh" richtet sich der Chor in Aischylos Drama an die Furien. Die rachsüchtigen Zornbündel verwandeln sich. Athene bringt es zuwege, sie in das Gemeinwohl einzubinden. Sie vernichtet die Erinnyen nicht, sondern überzeugt sie, sich mit der Stadt zusammenzutun und weist ihnen einen Platz zu. Beim Festzug nehmen sie eine aufrechte Haltung ein, mit purpurnen Festgewändern ausgestattet. Ab jetzt werden sie der Stadt als Eumeniden Wohlwollen entgegenbringen. Hier wurde nicht einfach ein Käfig um den Zorn errichtet, sondern der Zorn wurde von Grund auf verändert.

Darin kann man zwei zentrale Wandlungen erkennen. Die erste besteht darin, dass Athene Rechtsinstitutionen schafft, um den endlosen Kreislauf der Blutrache zu durchbrechen. Und Zweitere verwandelt die Emotionen, verändert die Empfindungen im persönlichen wie im öffentlichen Bereich. Die Philosophin Marta Nussbaum nennt diesen Prozess "Zorn des Übergangs". Und bringt ihn auf die Formel: "Wie empörend. Dagegen sollte etwas unternommen werden." Dieser Zorn ist auf die Zukunft gerichtet.

Sie tragen ihre besten Kleider. Sie sind angereist in 30 Zügen und 2.000 Bussen. Müde sind sie von der Fahrt, aber hochgestimmt. Sie ziehen durch Washingtons Straßen, sie singen ihre Lieder. Sie sind schwarz, sie sind braun, sie sind weiß. Und sie sind viele. Es ist Sommer, ein strahlender Tag. Martin Luther King tritt ans Rednerpult und beginnt seine Rede vor dem Kapitol in Washington, 200.000 Menschen haben sich im Zuge der Bürgerrechtsbewegung vor dem amerikanischen Parlament versammelt. Kings Rede ist eine Abfolge von Emotionen. Sie setzt ein mit dem Zorn. King spricht das Unrecht und die Diskriminierung an, derer sich die Schwarzen ausgesetzt wissen. Doch dann, wenn der Ruf nach Vergeltung kommen müsste, wechselt King in den "Zorn des Übergangs" und sagt: "Während wir versuchen, unseren rechtmäßigen Platz einzunehmen, dürfen wir uns keiner unrechten Handlung schuldig machen. Lasst uns nicht den Kelch der Bitterkeit und des Hasses trinken, um unseren Durst nach Freiheit zu stillen". Dann folgt der Blick nach vorne: "I have a dream." Ich hab einen Traum.

Martin Luther King macht klar: "Ich habe nicht gesagt: Werdet Eure Unzufriedenheit los!" Zorn leistet einen nützlichen Beitrag dazu, sich zu engagieren. Aber die Konzentration muss der Zukunft gelten und zwar mit Hoffnung und Vertrauen, dass Besseres möglich ist. In der Bibel heißt es im Epheserbrief des Paulus: "Lasst die Sonne nicht über eurem Zorn untergehen." Sonst dreht sich der Zorn allein um sich selbst, vergiftet jeden Fortschritt. Sonst wird der Zorn zu einem Akt der Selbstunterwerfung, wird die Wut zu einer sich selbst zerfressenden Einübung ins Gehorchen.

Anders Nelson Mandela. Den "Übergang des Zorns" mit den Verbrechen der Apartheid vollzieht der damals frisch gebackene Präsident Südafrikas mit der Einsetzung der Wahrheits- und Versöhnungskommission. Täter machen ihre Aussage über das, was war, dafür bekommen sie Amnestie. Die öffentliche Anerkennung von Unrecht ist notwendig, um Vertrauen zu erhalten, zu stärken oder es wieder herzustellen. Sie ist zentral wichtig für die Ausrichtung auf die Zukunft. Der Erfolg Mandelas bestand darin, Unrecht sichtbar zu machen und als wahr anzuerkennen. Und dann mit dem "Zorn des Übergangs" den Blick auf die Zukunft zu richten. Wie die Erinnyen in Athen, die dem Recht weichen mussten - aber sich mitverwandelten zum Wohle der Stadt.

Das wäre jetzt ein glatter schöner Schluss gewesen. Zu enden mit den schön verwandelten Furien und der Gewissheit wohlmeinender Eumeniden für immer. Das muss aber nicht immer so bleiben. Der blinde Zorn ist nicht ewig verwandelt, nicht einfach eingehegt, wohin er sich wendet ist offen. Wer den Zorn wo bindet ist umkämpft. Den Kampf führen Erinnyen und Eumeniden mit sich selbst. Und wir mit uns.

Sendereihe

Gestaltung

  • Martin Gross