Zwischenruf

Matthias Geist über Kairos

Matthias Geist, Superintendent der evangelisch-lutherischen Diözese Wien, über den richtigen Augenblick, Zeitpunkt, Kairos. - Gestaltung: Martin Gross

Morgen Abend wird die Pummerin in Wien das neue Jahr einläuten. Zum Übergang von einem Jahr in das andere. Hoffnungsvoll wird der Moment oft erlebt und von dumpfen Klängen der schweren Pummerin begleitet. Oder doch bedrohlich.

Der Rück- und Ausblicke sind es nun schon wieder genug. Zu Mitternacht ist gleichzeitig ein Nicht-Mehr und ein Noch-Nicht. Ein Zeitpunkt, der den Fluss der Zeit scharf durchtrennt. Zu Silvester ruft dieser Augenblick des Wechsels in mir die gewohnten Fragen hervor: Was war bei mir - in meinem Leben - wichtig? Was wird oder könnte bald sein und ist doch noch nicht! Überschäumend zu feiern ist eine Option. Nachdenklich gestimmt im Freundeskreis die andere. Oder einfach verschlafen - Augen zu und durch? Ja: Ist der Zeitpunkt des Jahreswechsels überhaupt ein entscheidender?

Nein, denke ich. Denn der Moment ist immer da. Und die Frage ist, ob er uns trennt oder verbindet. Er kann uns von uns selber oder von anderen trennen, eine Distanz aufreißen. Er kann uns genauso mit uns und dem Weltgeschehen versöhnen. An jedem 365. Tag wird der Kairos aber zum Ritual. Weltweit wandert Silvester um den Globus. Und es dämmert mir dabei. Wie gehe ich mit der Zeit um? Wie gehe ich mit der Zeit? Welche Zeit ist meine Zeit? Es ist die Frage nach dem langsamen Innehalten. Kontinuität in aller punktuellen Begegnung der durchgetakteten rush-hour meines Lebens.

Die Bibel lässt den Menschen zur Ruhe finden und sie lehrt uns beten: "Meine Zeit steht in deinen Händen". Wie im Psalm 31 darf jeder Augenblick und jede Phase vertrauensvoll in die Hand des Schöpfers hineingelegt werden. Auch in unruhigen Zeiten. Und in den hervorragenden, die mich begeistern und nach vorne bringen. Ein Kairos wird dann als besondere Begegnung mitten im geliehenen Leben gesehen. Und er verbindet mich mit anderem und meinem eigenen Sein.

Der Kairos, der entscheidende Augenblick ist ein einmaliges Ereignis: Die Geburt meiner Kinder 2003, der Abschluss einer jeden Ausbildung. Ein Übergang als Geschenk der Zeit. Genauso aber auch Nine-eleven und zuletzt Strasbourg als Zeichen für das Auseinanderklaffen von Weltbildern, das ich oft hautnah ertragen muss. Es sind verwundbare Momente, die mich und jede Gemeinschaft erschüttern und die Vergänglichkeit wirksam erscheinen lassen. Jede Machtergreifung eines willkürlich handelnden Machthabers, jeder Richterspruch mit Gewalt ist gefahrvoll. Und ein Terrorakt durchtrennt das Vergangene wie ein stechender Schmerz. Und genauso die Ergreifung des Täters von Strasbourg oder anderswo, der ohne Gerichtsurteil gerichtet wird. Harmlos wird dieser weitere staatlich und medial legitimierte Terrorakt benannt: Er wurde "neutralisiert" und die Welt könne "aufatmen". Wie schrecklich ein Kairos den nächsten hervorbringt und spaltet! Geradezu normal und logisch gilt er.

In der griechischen Mythologie meint der kurze Augenblick über sich: Ich bin Kairos, der alles bezwingt! Und er antwortet auf die Frage: "Warum trägst du in deiner Hand ein spitzes Messer?" "Um die Menschen daran zu erinnern, dass ich spitzer bin als ein Messer".

Die Zeiten sind spitz und kantig geworden und ich möchte den Kairos als berührend erleben und benennen. Inmitten einer von Gott geliehenen Zeit, die in seinen Händen liegt. Doch der Tornado der Nationalismen und Gemeinheiten fegt über uns jährlich stärker hinweg. Er kann auch in unserer Welt herrschen und zerschlägt Gemeinschaft und bricht die Versprechen. Und hinter sanften Worten oder hintergründigem Schweigen verbirgt sich bisweilen die Grausamkeit harter Entscheidungen. Dem will ich und soll ich etwas entgegenhalten.

Zum Jahreswechsel bringt mich die Pummerin auf den Gedanken, den bewussten Augenblick, den Kairos in meinem Leben neu zu finden. Ich fühle mich zwar beschleunigt in meinem Leben und rastlos, wie die Welt es uns vorschreibt. Aber ich wünsche unserer Gemeinschaft auf dieser Welt ein Dagegenhalten. Ein Innehalten in Achtung vor der Zeit, die nicht unsere ist, sondern eingebettet in Gottes Zeit bleibt. Staunen wir, hoffen wir und lassen uns nicht vom falschen Augenblick zerschneiden und spalten. Dieser heilbringende Kairos ist der Moment, der mich nicht von mir und anderen trennt. Dieser Augenblick verbindet und führt mich zu mir selber zurück. Ihn kann ich nicht aus mir selber schaffen. Geliehen und geschenkt.

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