Gedanken für den Tag

Gudrun Sailer über Grimms Märchen

"Von Wäldern, Hexen und hundertjährigem Schlaf" - Weisheiten aus Grimms Märchen. Gudrun Sailer, Journalistin im Vatikan und Literaturwissenschafterin, macht sich Gedanken über Grimms Märchen und fragt am Beginn eines neuen Jahres, welche Fenster zur Welt sie öffnen. - Gestaltung: Alexandra Mantler

Ein Un-Ort. Ein Berg aus mörderischen Hecken: Wer vor der Zeit durch will, spießt sich den Leib auf und stirbt. Dornröschen schläft da drin in ihrem Schloss 100 Jahre, genauso wie alle anderen Lebewesen, die am 15. Geburtstag der Prinzessin an Ort und Stelle waren: Stubenfliege, Küchenmagd, Königspaar. Der machtvolle Fluch der bösen Fee gilt Menschen und Tieren, aber nicht der Hecke. Die wuchert und wacht, beängstigend lebendig, über die Grenze zwischen Zeit und Stillstand.

Was wäre, wenn ich mit Familie und Goldfisch in einen hundertjährigen Schlaf fiele? Was würden wir verschlafen? Den nächsten Weltkrieg? Die Wachablöse des Menschen durch die denkende Maschine? Die endgültige Klimakatastrophe? Oder ein Miteinander von Völkern, die sich besser zusammenraufen, als wir es 2019 dachten? Eine Menschheit, die teils im All lebt und hin- und herflitzt zwischen Erde und Zweiterde? Eine Welt ohne Hunger, Krebs und Terror? Unsere Vorfahren, die einander zu Brüder Grimms Zeiten vor 200 Jahren "Dornröschen" erzählten: Wie dachten die sich eigentlich ihr Übermorgen? Mein Tipp wäre, sie sahen, wie wir, mit Sorge in die Zukunft. Damit hatten sie Recht und Unrecht zugleich. Und beides anders, als sie meinten.

Das Zaubermittel in Dornröschen ist diese gewaltige Hecke, eine stachlig-grüne Zeitmaschine der vorindustriellen Epoche. Sie umschließt eine Blase und schützt deren Insassen, indem sie sie auf Zeit aus der Zeit herausklammert und später ausgeschlafen wieder freigibt, in eine neue Welt hinein. So hellwach wie Dornröschen am Tag eins nach dem großen Schlaf wäre ich gerne in meiner vertrauten Welt. Jenseits der Hecke: so viel Erstaunliches, Bahnbrechendes und Neues, das ich mir in 100 Jahren Schlaf nie erträumt hätte. Ich nehme mir vor, das Gegebene mit staunenden Augen zu sehen, die heute wieder sehen dürfen.

Service

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Sendereihe

Gestaltung

Playlist

Komponist/Komponistin: Peter Iljitsch Tschaikowsky/1840 - 1893
Vorlage: Charles Perrault/1628 - 1703
Gesamttitel: DORNRÖSCHEN, op.66 - Ballett in 3 Akten mit Prolog / Gesamtaufnahme / 3.Akt
Titel: 2. Nr.22 Polacca : Märchenaufzug (00:04:14)
Orchester: Kirov Orchester St.Petersburg
Ausführender/Ausführende: Uri Zagorodniuk /Solo - Violine
Ausführender/Ausführende: Sergei Roldugin /Solo - Violoncello
Leitung: Valery Gergiev
Länge: 04:14 min
Label: Philips 4349222 (3 CD)

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