Zwischenruf

Rainer Bucher über neue Lebensformen

"Ziemlich neue Zeiten". Über die Angst vor neuen Lebensformen und Veränderungsdruck erzählt Rainer Bucher, Universitätsprofessor und Vorstand des Instituts für Pastoraltheologie und Pastoralpsychologie an der Universität Graz. - Gestaltung: Brigitte Krautgartner

Wenn sich Kultur und Gesellschaft so schnell verändern, dass alte Fähigkeiten und Sicherheiten nicht mehr viel zählen, dann wird die Wahrnehmung der eigenen Existenz prekär. Wenn "standardisierte Erwartungen auf nichtstandardisierte Wirklichkeiten" treffen, wie der Soziologe Heinz Bude formuliert, dann wächst die Angst.

Wir leben tatsächlich in ziemlich neuen Zeiten. Die von uns in Gang gesetzten kulturellen und technologischen Entwicklungen bekommen hinter unserem Rücken eine ungeplante Eigendynamik und vor uns tauchen immer wieder ziemlich unvorhergesehene, ja unvorhersehbare Ereignisse auf: vom Zusammenbruch des Kommunismus bis zum beinahe Kollaps des Weltfinanzsystems.

Wer die Unsicherheit, die mehr oder weniger notwendig in solchen überraschungsdichten Zeiten entsteht, nicht mehr aushalten kann, braucht den Schnitt zwischen Innen und Außen. Er braucht den Schnitt zwischen "denen" und "uns", braucht den Ausschluss der anderen, um mit seiner "Angst vor der Angst" fertig zu werden.

Im Kapitalismus ist zwar nicht ständig alles in Fluss, aber alles kann ins Fließen kommen. Und während die einen ziemlich erfolgreich auf den Wellen der kapitalistischen Postmoderne surfen, haben andere Angst davonzudriften. Den Prinzipien des Kapitalismus kann man sich kaum entziehen. Wettbewerb, Effektivitätsdenken, das Streben nach Fremd- und Selbstoptimierung, das ständige Nutzenkalkül: Sie dringen in alles ein, ins Bildungswesen, in den Sport, selbst in die Religion und die Liebe.

Das setzt alle unter permanenten Veränderungsdruck. Alte Lebensformen verlieren ihre Selbstverständlichkeit. Für die einen bedeutet das Befreiung, für die anderen den Verlust von Heimat, also des Gefühls der selbstverständlichen Einbettung der eigenen Existenz in die Welt.

Wer, wie es der Kapitalismus fordert, sein Leben auf Konkurrenz, Erfolg, Konsum und Selbstoptimierung setzt, kommt irgendwann in der Gnadenlosigkeit und Öde dieses Konzepts um. So effizient der Kapitalismus unter bestimmten Bedingungen als ökonomisches System sein mag: als Identitätsmuster ist er unbrauchbar. Spätestens seit der Kapitalismus nach 1989 global gesiegt hat und bis auf den indiskutablen islamischen Fundamentalismus praktisch konkurrenzlos die Welt beherrscht, dringen die Leere, Unbarmherzigkeit und Ungerechtigkeit des Kapitalismus verstärkt in die Alltagswelt vieler Menschen.

Da fällt es Demagogen nicht schwer, die fatale Eskalationsspirale des "Wir zuerst" in Gang zu setzen. In diesem "Wir" steckt die Sehnsucht nach vergangenen Zeiten, in denen die Welt noch überschaubar und geordnet schien. Erreichen will man das durch den Ausschluss jener, von denen man meint, dass sie diese Idylle stören. Diese Demagogen versprechen, die Vorteile der kapitalistischen Dynamisierung genießen zu können, ohne deren kulturellen Verunsicherungskosten bezahlen zu müssen. Der Brexit ist ein schönes Beispiel dafür: Man versprach die Rückkehr zu Englands glorreichen Zeiten - und das in einer unumkehrbar globalisierten Welt. Solche romantischen Retro-Utopien sind kollektiver Egoismus und führen, wie jeder Egoismus, irgendwann in den Abgrund.

Es wird entscheidend sein für Europa, vielleicht sogar für die Welt, ob man zwischen den Straßengräben der kapitalistischen und der anti-demokratisch-identitären Versuchung einen Weg findet. Sonst droht die fatale Alternative zwischen der leerlaufenden kapitalistischen Konsum- und Leistungsspirale und dem Prinzip "Inklusion für diejenigen, die ich mag, Ausschluss für alle anderen". Und es wird dann Zufall sein, wer dieses "Innen" gerade wie definiert und wer im Außen landet.

Zwischen kapitalistischem Leerlauf und identitären Mythen muss ein Weg gefunden werden. Christen wären dafür prädestiniert. Denn sie glauben weder an den Kapitalismus noch an "das Volk" oder gar "die Nation". Christen stemmen sich gegen Angst und Ausschluss. Denn der Gott, an den sie glauben, steht gegen beides. Er gibt keine Sicherheit - aber man kann mit ihm lernen, mit der Unsicherheit zu leben.

Sendereihe

Gestaltung