Zwischenruf

Gabriele Eder-Cakl über religiöses Leben heute

"Auf den zweiten Blick". Überlegungen von Gabriele Eder-Cakl, Pastoralamtsdirektorin der katholischen Kirche in Oberösterreich, wie religiöses Leben in der modernen Gesellschaft funktionieren kann. - Gestaltung: Brigitte Krautgartner

Umfassender Wandel, das ist das markanteste Kennzeichen unserer Zeit. Und wie groß und markant dieser Wandel ist, möchte ich beschreiben mit einem Blick in die Quantenphysik:

Seit 120 Jahren müht sich die Wissenschaft mit der Quantentheorie ab. Max Planck nannte es einen "Akt der Verzweiflung", als er die These aufstellte, dass Strahlung nicht in beliebig kleinen Mengen, sondern nur in Paketen - Quanten - abgegeben werden könne.

Die Quantentheorie stellt viele bisherige Erkenntnisse nach wie vor auf den Kopf. So haben die Quantenteilchen die irritierende Angewohnheit, dass ihr Ort unbestimmt ist, wenn sie nicht gemessen werden. Solange man sie nicht festnagelt, befinden sie sich quasi hier und dort. Oder es gibt eine geisterhafte Verbindung zwischen zwei Teilchen, die dazu führt, dass, sobald man den Zustand eines Teilchens verändert, das Partnerteilchen eine korrespondierende Veränderung exakt im selben Moment erfährt. Nach wie vor gibt es sehr viele ungelöste Fragen in der Quantenwissenschaft.

Warum ich das alles erzähle? Ich versuche, das Denken weit aufzumachen, Dinge zusammenzudenken, die wir normalerweise nicht im Entferntesten zusammenbringen. Möglichkeiten für wahr halten, die uns ganz fremd sind. Zusammenhänge erkennen, die wir erst am zweiten Blick sehen.

Alle nehmen wahr, dass sich Gesellschaft mitten in einem Transformationsprozess befindet und somit auch Religion und Kirche. Bereits vor 50 Jahren - nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil - hat Kardinal Hermann Volk gesagt: "Wir starren in eine Richtung, aus der Gott kommen muss, in der Zwischenzeit steht er allerdings hinter uns und sagt: Dreh dich um, ich bin schon da." Dieser Ausspruch scheint mir aktueller denn je.

Wir sprechen heute davon, dass Menschen säkular und religiös zugleich leben können. Das hätte vor einigen Jahren niemand zu sagen gewagt. Säkular und religiös zugleich - das zeigt sich z.B. so: Menschen haben am Sonntagvormittag etwas anderes zu tun, als in die Kirche zu gehen und am Montag zünden sie eine Kerze in der Kirche an.

Unsere Erfahrungen, gedeckt durch religionssoziologische Analysen, zeigen, dass Menschen ihr Leben selbstverantwortet gestalten und auch das religiöse Leben und die Form der Gemeinschaft als Glaubende individuell bestimmen wollen. Herausforderung besteht für Kirche darin, Freiräume im Glauben wertzuschätzen und zugleich neue Formen institutioneller Bindung zu entwickeln. Gott eben nicht nur aus einer Richtung zu erwarten.

"Religion ist Atempause - Religion zeigt, dass es einen Sinn jenseits von Produktivität gibt." Das sagt der in Münster lehrende islamische Religionswissenschaftler Ahmad Milad Karimi. Seinen Satz, ".dass wir ohne ein Verständnis der Religion die Welt nicht adäquat verstehen können", unterstreiche ich.

Ich erlebe, dass Menschen nach religiöser und ethischer Orientierung hungern. Im Gespräch mit dem Rektor der Linzer Kepleruniversität Meinhard Lukas, sagte dieser: "Die Welt der Wissenschaft, wo höher, schneller, weiter wichtig ist, braucht eine ,Maßstäblichkeit'. Die Idee der wertefreien Wissenschaft ist gescheitert, es gibt keine wertfreie Ethik. Religion und Ethik sind Anker in einer grenzenlosen Welt."

Was Rektor Lukas für die Wissenschaft formuliert, gilt übertragen auch für andere Bereiche. Die heutige Zivilgesellschaft bedarf Glaubens- und Wertegemeinschaften wie der Kirche, die ihre Sinnangebote, ihre Vorstellungen guten Lebens, ihre Motivation für Verteilungsgerechtigkeit in der Gesellschaft einbringt - sowie wertvolle Beiträge für Solidarität, sozialen Zusammenhalt und Nachhaltigkeit.

Die vom Evangelium vorgegebene "Option für die Armen" in Taten umsetzen - eine "Bürgerinitiative des Hl. Geistes" zu sein, das ist uns heute aufgetragen. Es braucht von Seiten der Religionen und Kirchen Interventionen mitten in diese Gesellschaft hinein.

Sendereihe

Gestaltung

Playlist

Komponist/Komponistin: Terry Riley
Album: KRONOS QUARTET 25 YEARS / 25 JAHRE KRONOS QUARTETT
* Mongolian Winds (00:04:10)
Titel: "The Gift", Nr.3 aus "Salome Dances for Peace" - für Streichquartett
Gesamttitel: TERRY RILEY
Ausführende: Kronos Quartet
Ausführender/Ausführende: David Harrington /Violine
Ausführender/Ausführende: John Sherba /Violine
Ausführender/Ausführende: Hank Dutt /Viola
Ausführender/Ausführende: Joan Jeanrenaud /Violoncello
Länge: 04:16 min
Label: Nonesuch 795042 (10-CD-Box)

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