Zwischenruf

Susanne Heine über Religion und Politik

"Was heißt politisch?". Susanne Heine, Professorin am Institut für Praktische Theologie und Religionspsychologie an der evangelisch-theologischen Fakultät der Universität Wien, über einen guten Umgang von Staat und Religionsgemeinschaften miteinander. - Gestaltung: Martin Gross

"Frauen, wacht auf! Was auch immer die Hürden sein werden, die man euch entgegenstellt, es liegt in eurer Macht, sie zu überwinden. Ihr müsst es nur wollen." So der Aufruf von Olympe de Gouges einer französischen Revolutionärin und Frauenrechtlerin aus dem 18. Jahrhundert. Für mich ist dieser Aufruf auch heute noch gültig.

In der Geschichte war sicher die Verweigerung des Wahlrechts für Frauen eine dieser Hürden. Durch den Einsatz mutiger Revolutionärinnen und Frauenrechtlerinnen ist sie schließlich 1919 gefallen. 100 Jahre Frauenwahlrecht, und ich darf mich bereits fast ein halbes Jahrhundert aktiv am "Urnengang", ein typisches Vokabel meiner Jugendzeit, beteiligen. Bei der Nationalratswahl 1970 war es so weit, ich durfte endlich auch offiziell mit meinem Stimmzettel "mitmischen".

Ich habe es noch gut vor Augen

Nun ist er also da der 1. März 1970, MEIN erster echter Wahltag, was heißt da meiner? Mit mir warten ebenso ungeduldig und voll Tatendrang vier Volksschulkolleginnen alle aus derselben Gasse am Stadtrand. Unsere Lebensumstände sind zwar bereits ziemlich unterschiedlich, unser Interesse an Politik und Gesellschaft aber ähnlich groß. Kein Wunder, haben wir doch die Stimme unserer Lehrerin noch immer im Ohr: "Wenn ihr erwachsen seid, müsst ihr immer auf unser Land aufpassen und dafür sorgen, dass es frei bleibt und gutes Ansehen hat in der Welt!"

Und nun sind wir also erwachsen genug, um endlich auch wählen zu dürfen. Schon Wochen davor sitzen wir immer wieder beisammen, lesen aufmerksam die vorderen Seiten der Zeitungen und diskutieren über die Wählbarkeit der verschiedenen Parteien. Die traditionellen parteipolitischen Richtungen unserer Familien sind zwar nicht ident, aber bei unseren Gesprächen geht es in erster Linie um das, was wir Menschen in diesem unserem Land brauchen. Ideen beurteilen wir dabei nicht nach der Richtung, aus der sie kommen, sondern ob sie uns zielführend scheinen.

Noch etwas besprechen wir gründlich: die äußerliche Gestaltung unserer Erstwahl. Bald ist klar, dass wir uns alle irgendwie in dunkelblau/weiß anziehen und natürlich zur gleichen Zeit in unserem Wahllokal erscheinen werden.

Gesagt, getan. Pünktlich um 9.00 machen wir uns auf den Weg und betreten nur 10 Minuten später die Gaststube beim Friedhofswirt. Unser Sprengel ist nicht groß, und das Ergebnis auch ohne Hochrechnung unschwer in etwa zu erahnen. Die Spannung im Wahllokal hält sich also in Grenzen. An diesem Tag sorgen wir fünf jungen Frauen, geballt in blauweiß erscheinend, allerdings für ein plötzliches Raunen im Raum und ein erstauntes Aufblicken der Beisitzer. Nach den Formalitäten meint einer grinsend zu meinem Vater, der stolz hinter mir steht: "Na hoffentlich haben die Väter den Mädeln erklärt, wie sie wählen sollen!" Papa gibt trocken zurück: "Na hoffentlich nicht, wir sollen ja wissen, was die Jungen meinen!" Nach dem Erfüllen unserer Staatsbürgerpflicht haben wir uns übrigens einen Kaffee und eine hausgemachte Wahltorte der Friedhofswirtin gegönnt.

Warum ich das erzähle? Weil mir damals erstmals bewusst geworden ist, was gemeinsames Auftreten, demonstratives Sichtbarmachen bewirken kann. Ich bin davon überzeugt, dass es gerade für uns Frauen ein probates Mittel ist, um unseren Meinungen und Anliegen Gehör zu verschaffen. Es geht darum, sie gemeinsam zu vertreten und uns nicht auseinanderdividieren zu lassen. Es gäbe ja immer wieder viele Kategorien, nach denen man/n uns Frauen auseinanderdividieren könnte. Die ethnische Herkunft etwa oder die Lebensform, die Weltanschauung und die religiöse Überzeugung, auch das Alter und vieles mehr.

Auseinanderdividieren KÖNNTE, wenn wir es ZULASSEN!

Unsere mutigen Ahninnen, haben das eben nicht zugelassen. Ihnen ist das Erreichen des Frauenwahlrechts und vieles andere nicht zuletzt dadurch gelungen, dass sie über den Tellerrand geschaut haben. Sie haben über parteipolitische Grenzen hinweg zusammengearbeitet, weil es ihnen um die Sache ging.

Und sie haben es gewagt aufzufallen, sie haben sich eingesetzt, und dadurch auch ausgesetzt, weil sie ihr Licht nicht unter den Scheffel gestellt haben, was uns ja auch die Bibel rät. Auch die katholische Selige Hildegard Burjan, obwohl Mitglied einer konservativen Partei, hat sich unüberhörbar eingesetzt. Dabei ist gerade so ein Verhalten immer wieder als unweiblich verpönt, und das nicht nur vor 100 Jahren.

Übrigens, meine Schulkolleginnen und ich haben vor, am 1. März 2020 unser "goldenes Wahljubiläum" zu begehen, in dunkelblau/weiß beim Friedhofswirt.

Sendereihe

Gestaltung