Medizin und Gesundheit

Zwischen Absicherung und medizinischer Notwendigkeit

Im April 2018 wurde dem 17 Monate alten David eine Operation zum Verhängnis: Ein kleiner Routineeingriff, die Entfernung eines blutenden Muttermals, wurde durchgeführt, obwohl der Bub nicht nüchtern war. Im Rahmen der Narkose hat er Erbrochenes eingeatmet und verstarb elf Tage später. Gegen den Anästhesisten und den Kinderchirurgen wurde ein Strafantrag eingebracht. Fälle wie dieser sind für alle Beteiligten dramatisch. In allererster Linie für die Angehörigen, aber auch für die betreuenden Mediziner. Albert Wu, Professor an der Johns-Hopkins-Universität Baltimore definiert hier den Arzt als zweites Opfer ("second victim"). Während der Patient naturgemäß das erste Opfer ("first victim") darstellt, sind es die Verursacher, die sich schuldig führen, mitunter in schwere, psychische Krisen stürzen und sich auf der Anklagebank wiederfinden: Obwohl sie zumeist - wenngleich möglicherweise auch fahrlässig - im besten Wissen gehandelt haben.

Better safe, than sorry

Zum Glück geht es nicht immer um Leben und Tod. Dennoch sind die Folgen der Behandlungsfehler stets mit großem Leid für die Betroffenen verbunden. Dies hat zur Folge, dass die im medizinischen Betrieb tätigen Personen lieber auf der rechtlich sicheren Seite agieren. Das bedeutet, sich streng an die vorgegebenen Leitlinien zu halten und lieber die eine oder andere Untersuchung zu viel als zu wenig durchzuführen. Schätzungen der deutschen Krankenkassen gehen davon aus, dass jedes dritte Antibiotikum unnötig verschrieben wird, jede dritte radiologische Untersuchung nicht indiziert ist.
Denn auch wenn hierzulande, wie die Medizinrechtsexpertin Monika Ploier erklärt, noch "keine US-amerikanischen Verhältnisse herrschen", ist die Klagsfreudigkeit der Patientinnen und Patienten in den letzten Jahren deutlich gestiegen. So verzeichnete die Niederösterreichische Patientenanwaltschaft alleine von 2017 auf 2018 eine Steigerung der Geschäftsfälle um 13 Prozent. Daneben wenden sich viele Geschädigte auch an die Schlichtungsstelle der Ärztekammern.

Patientenentschädigungsfonds

Wenn man in einem öffentlichen Krankenhaus Schaden erleidet und die Verschuldensfrage nicht eindeutig zu klären ist, so können die Betroffenen Geld aus dem Patientenentschädigungsfonds bekommen. Die finanzielle Höchstgrenze variiert jedoch in den einzelnen Bundesländern deutlich. Zudem hat man bei Schäden, die in Privatkliniken oder bei niedergelassenen Ärztinnen und Ärzten passiert sind, keinen derartigen Anspruch. Hier fordern die Patientenanwälte eine entsprechende Gesetzesänderung.

Ronny Tekal spricht mit seinen Gästen über Ursachen und Konsequenzen der Absicherungsmedizin und darüber, ob es bei Komplikationen oder mangelnden Heilerfolgen immer auch einen "Schuldigen" geben muss.

Eine Sendung von Dr. Christoph Leprich und Dr. Ronny Tekal

Reden auch Sie mit! Wir sind gespannt auf Ihre Fragen und Anregungen. Unsere Nummer: 0800/22 69 79, kostenlos aus ganz Österreich.

Haben Sie einmal die Dienste der Patienten- und Pflegeanwaltschaft bzw. der Schlichtungsstelle der Ärztekammer in Anspruch genommen?

Ist Ihrer Meinung nach die Rechtslage in Österreich bei Kunstfehlern ausreichend klar oder ist eine Reform nötig?

Mussten Sie selbst bereits gegen eine medizinische Institution prozessieren?

Haben Sie das Gefühl, dass in manchen Fällen eher die juristische, denn die medizinische Notwendigkeit im Vordergrund steht?

Service

Studiogäste im FH Wien:

Dr. Alexander Ortel
Arzt und stv. Leiter der NÖ Patientenanwaltschaft
NÖ Patienten- und Pflegeanwaltschaft
Landhausplatz 1
3109 St. Pölten
E-Mail
Homepage
Tel.: +43/2742/9005 15575

Dr.in Monika Ploier
Rechtsanwältin und Expertin für Medizinrecht
HLMK Rechtsanwälte
Gonzagagasse 19
1010 Wien
E-Mail
Homepage
Tel.: +43/664/810 66 37

Dr. Günther Loewit
Arzt und Schriftsteller
Hauptstraße 1
2293 Marchegg
E-Mail
Homepage
Tel.: +43/699/126 96542


Weitere Anlaufstellen und Info-Links:

Aktueller Fall aus Salzburg (salzburg.orf.at, Okt 2019)

Patientenschlichtungsstelle Österreichische Ärztekammer

Infobroschüre "Alles was recht ist!" - Österreichische Morbus Crohn-Colitis ulcerosa Vereinigung

Wenn Patienten Ansprüche geltend machen (dt. Ärztezeitung 2018)

"Ich schäme mich immer noch" Fall eines Behandlungsfehlers (Spiegel Online)

Liste der Patientenanwaltschaften Österreich

Absicherungsmedizin aus ethischer Perspektive

Gemeinsam gut entscheiden: eine Initiative gegen medizinische Überversorgung

Defensive Medizin zur Absicherung

Defensive Medizin - unnötige Medizin?

Buch-Tipps:

Peter Lechleitner
Götter in Weiß: Wie Sie von ihnen bekommen, was Sie brauchen
Verlag: Molden Wien; Auflage: 1 (24. März 2014)

Volker Großkopf, Hubert Klein
Recht in Medizin und Pflege
Verlag: Spitta GmbH; Auflage: 4., vollständig überarbeitete (16. Dezember 2011)

Maria Kletecka-Pulker, Katharina Leitner
Patient im Recht
Verlag: Manz (2015)

Oscar London
Töte möglichst wenig Patienten: 57 goldene Regeln, um der beste Arzt der Welt zu werden
Verlag: Riva (15. August 2014)

Gerd Reuther
Der betrogene Patient: Ein Arzt deckt auf, warum Ihr Leben in Gefahr ist, wenn Sie sich medizinisch behandeln lassen
Verlag: Riva (20. März 2017)

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