Zwischenruf

Lars Müller-Marienburg über Menschenwürde

Lars Müller-Marienburg, Superintendent der evangelisch-lutherischen Kirche in Niederösterreich, erzählt von seinen Beobachtungen zu Menschenwürde und -rechten beim Bachfestival in Ansbach

Seit ich Schüler war, arbeite ich alle zwei Jahre in meiner Geburtsstadt an der Organisation eines Bachfestivals mit. Bei der Bachwoche Ansbach singen und spielen zehn Tage lang die besten Bachinterpreten.

Ein fachkundiges Publikum genießt wunderbare Konzerte in historischen Kirchen und Sälen. Und - für mich das wichtigste - fast 80 Menschen sind in den verschiedenen Arbeitsbereichen tätig, um Künstlerinnen zu chauffieren und zu betreuen, um die Konzertstätten für das Publikum vorzubereiten, Instrumente zu transportieren, Karten zu kontrollieren und die Gäste an ihre Plätze zu bringen. Diese Menschen verbindet die Liebe zu Bach und die Liebe zur Bachwoche, für die wir alle unser Bestes geben. Wir sind stolz, wenn Künstler und Gäste sich wohlfühlen und wenn niemand merkt, wie viel zu bedenken und zu tun ist, damit die Woche reibungslos über die Bühne geht. Wir freuen uns besonders, wenn das Publikum von der Freundlichkeit der jungen Menschen bezaubert wird.

Im "normalen" Leben sind die Jüngeren von uns Helfern Schülerinnen, Studenten und Lehrlinge, die Erfahreneren sind Unternehmerinnen, Polizisten, Ingenieure, Amtsleiter, Gymnasialprofessorinnen und vieles mehr. Ich bin eben Superintendent der evangelischen Kirche in Niederösterreich.

Die allermeisten Gäste sind große Musikfans. Sie lieben Bach - und besonders Bach in Ansbach. Sie kommen wegen der Musik und nicht, um gesehen zu werden. Das trägt zur besonderen Atmosphäre bei. Aber selbst in dieser Umgebung passiert es manchmal, dass etwas nicht so läuft, wie ein Gast es sich vorstellt. Vielleicht finden die Kolleginnen an der Abendkasse nicht sofort die hinterlegten Karten. Oder ein Platzanweiser hat gerade kein Programmheft zum Verkauf in der Hand, obwohl der Gast so gern eines hätte.

So wird mindestens einmal pro Bachwoche jemandem von uns die erboste Frage an den Kopf geworfen: "Wissen Sie eigentlich, wer ich bin?" Nun. Oft kennen wir die großen Namen unserer Gäste oder ihre hohen Positionen. Aber das spielt keine Rolle. Denn wir bemühen uns wirklich - um alle. Und ein Programmheft zu holen dauert für den Kaiser von China genauso lang wie für jemanden, den wir nicht kennen.

Die größere Frage für mich ist: Wie sollen wir mit dieser Frage umgehen? Wäre es richtig, auf die Frage "Wissen Sie eigentlich, wer ich bin?" die Gegenfrage zu stellen. "Wissen Sie eigentlich, wer ICH bin?" - und dann elegant die Visitenkarte der Rechtsanwältin oder des Superintendenten zu überreichen?

Bisher hat niemand von uns diese eigentlich berechtigte Gegenfrage gestellt. Das ist gut, weil wir ja kurz vor einem Konzert nicht mit Gästen in Streit geraten wollen. Deshalb schlucken wir lieber den Ärger herunter. Vor allem aber ist es gut, weil wir mit der Gegenfrage ja selbst in ein Spiel einsteigen würden, das sagt: Es ist in Ordnung, Menschen unterschiedlich zu behandeln. Als ob Höhergestellte oder Menschen mit einem bekannten Namen eine bessere Behandlung verdient hätten. Aber das stimmt nicht: Menschen verdienen Respekt - egal, wer sie sind, egal, welche Titel sie tragen. Nicht als Rechtsanwälte, Professorinnen, Diplom-Ingenieure oder Superintendenten möchten wir ordentlich behandelt werden. Sondern als Kartenkontrolleure und Platzanweiserinnen. Als Menschen.

"Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren. Sie sind mit Vernunft und Gewissen begabt und sollen einander im Geist der Solidarität begegnen." So heißt es am Anfang der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte. Christinnen und Christen denken hier natürlich auch an Jesu, der noch weiter geht als die Erklärung der Menschenrechte. Er stellte die Hierarchie auf den Kopf, als er zu seinen Jüngern sagte: "Wer unter euch allen der Kleinste und Unbedeutendste ist, der ist in Wirklichkeit groß."

Daran möchte ich mich erinnern. Nicht nur, wenn jemand mich oder meine Kolleginnen bei der Bachwoche klein machen möchte. Sondern besonders, wenn ich als Superintendent groß gemacht und hofiert werde.

Sendereihe

Gestaltung