Zwischenruf

Lars Müller-Marienburg über Online-Gottesdienste

Über die Kreativität der Kirchen und Religionen im Internet der vergangenen Wochen zeigt sich Lars Müller-Marienburg, Superintendent der evangelisch-lutherischen Kirche in Niederösterreich, begeistert

Wann sind Sie zum letzten Mal bei einer Predigt aufgestanden und gegangen, weil sie so langweilig war oder weil Sie nicht einverstanden waren? Wann sind Sie zum letzten Mal gegangen - von vorn aus der zweiten Reihe durchs ganze Kirchenschiff zum Ausgang.

Vorbei an Freundinnen und Bekannten aus der Pfarrgemeinde. Vielleicht verbunden mit einer lauten Äußerung des Missfallens. Mit einer knallenden Kirchentür als Höhepunkt des Abgangs. Und das alles, während der Pfarrer oder die Pfarrerin predigt - und natürlich alles mitbekommt. Wann haben Sie das zum letzten Mal gemacht? Ich nehme an: Die allermeisten von Ihnen haben es noch gar nie gemacht. (Zumindest ich habe es noch nie getan.)

Ich nehme leider auch an: Es liegt nicht daran, dass Sie noch nie eine Predigt erlebt haben, bei der Sie gern gegangen wären. Sondern eher, weil man das einfach nicht macht. Je nach Größe des Ortes, in dem die Kirche steht, wäre so ein Abgang ja ein absoluter Skandal. Auf jeden Fall würde er großen Mut brauchen.

Zwei Monate in diesem Jahr gab es wegen der Corona-Krise keine öffentlichen Gottesdienste und Gebete in den Kirchen und Moscheen, Synagogen und Tempeln Österreichs. Auch hohe religiöse Feste, bei denen sonst viele Menschen zusammenkommen, fielen in diese Zeit: Karfreitag und Ostern, Pessach und weite Teile des Ramadan. Stattdessen sind Online-Angebote wie Pilze aus dem Boden geschossen. Auf unterschiedlichste Weise wurde versucht, bei den Menschen zu sein und sie zum Beten und zum Zuhören einzuladen. Gestreamte Gottesdienste zu Karfreitag und Ostern. Online Seder-Abende zu oder rund um Pessach. Und auch das Iftar-Mahl, das tägliche Fastenbrechen im Ramadan, gab es virtuell.

Mich hat begeistert und bewegt, wie tatkräftig, kreativ und enthusiastisch die verschiedensten Menschen und Gemeinden der Kirchen und Religionen sich engagiert haben - und welche unglaubliche Vielfalt es im Netz zu erleben gab.

Besonders zum Nachdenken hat mich aber die Tatsache gebracht, dass in dieser Zeit die Entscheidungsmöglichkeiten für die Gläubigen so groß waren wie noch nie. Der Horizont konnte sich extrem erweitern. Ich hoffe, möglichst viele haben nicht nur die Angebote der eigenen Pfarrgemeinde oder Kirche wahrgenommen, sondern haben auch über den Tellerrand geblickt. Während es im "normalen" gottesdienstlichen Leben undenkbar ist, mitten im Gottesdienst aufzustehen und zu gehen, konnte man jetzt mit einem Klick das nächste Angebot ausprobieren, wenn etwas nicht gepasst hat. So lange, bis man etwas gefunden hat, was einem in diesem Moment im Leben und beim Glauben geholfen hat.

Im Idealfall haben die Menschen auf diese Weise einen Ermächtigungsschub erlebt. Sie haben gelernt, was es außer dem Gewohnten noch alles gibt - und sie mussten Entscheidungen darüber treffen. Als Evangelischer begrüße ich diese Ermächtigung aus vollem Herzen! Diese Art, den eigenen Glauben zu gestalten, kann es nicht 1 zu 1 im analogen kirchlichen Leben geben. Da sind alle - aber insbesondere wir Pfarrerinnen und Pfarrer darauf angewiesen, dass nicht sofort alle aufstehen, gehen und die Kirchentür zuknallen, wenn mal etwas misslingt. Kirche lebt wie jede Gemeinschaft von Kompromissen und von Treue.

Sendereihe

Gestaltung

Playlist

Komponist/Komponistin: Pat Metheny
Album: JOHN SCOFIELD / PAT METHENY - I CAN SEE YOUR HOUSE FROM HERE
Titel: Quiet rising/instr.
Solist/Solistin: John Scofield /Gitarre
Solist/Solistin: Pat Metheny /Gitarre
Solist/Solistin: Steve Swallow /Baß, Gitarre
Solist/Solistin: Bill Stewart /Drums
Länge: 05:28 min
Label: Blue Note 8277652

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