Medizin und Gesundheit

Pillen gegen die Traurigkeit

Vom Nutzen und dem Risiko der Psychopharmaka


"She goes running for the shelter . of her 'mother's little helper" ("In ihren Beruhigungsmitteln findet sie Zuflucht"). So besangen einst die Rolling Stones den Beginn des "Siegeszuges" der Tranquilizer. 1956 kam das erste Präparat aus dieser Gruppe auf den Markt. Und man kann sagen: Sie haben sich durchgesetzt. Immer mehr Menschen greifen zu angstlösenden, den Schlaf anregenden, stimmungsstabilisierenden oder -aufhellenden Mitteln. Alleine Antidepressiva werden von rund zehn Prozent der Bevölkerung konsumiert, Tendenz steigend. Die Grenze zwischen sinnvoller Unterstützung und Missbrauch ist bei Psychopharmaka fließend.

Licht- und Schattenseiten

Meist sind es gar nicht Psychiaterinnen, die den Rezeptblock zücken - viele Personen bekommen die stimmungsaufhellenden Substanzen vom Hausarzt verordnet. Zu schnell und zu unspezifisch, wie der Psychiater Lukas Pezawas meint. Einerseits spricht man in der Branche tendenziell eher von einer Unterversorgung der Betroffenen mit Antidepressiva. Andrerseits betrachtet man die oft unkritische Verschreibung von Psychopharmaka mit Besorgnis. Letztlich suchen auch viele Betroffene den schnellen Weg zum vermeintlichen Glück und fordern die Mittel bei den Ärzten mit Nachdruck ein. Um mit Mick Jagger zu sprechen: "Doctor please, some more of these!"
Dabei sind die Mittel alles andere als nebenwirkungsfrei. Laut einer Studie der Donauuniversität Krems traten bei rund 60 Prozent der, mit Antidepressiva der zweiten Generation behandelten Personen, Nebenwirkungen auf. Bei älteren Menschen, die ja häufig mehrere Medikamente gleichzeitig einnehmen, steigt auch die Gefahr von Wechselwirkungen.
Zudem zeigte Gerald Gartlehner, Leiter des Departments für evidenzbasierte Medizin und klinische Epidemiologie in Krems, in einer Meta-Analyse von 45 Studien, dass eine kognitive Verhaltenstherapie und Antidepressiva gleich gut wirken - selbst bei schweren Formen einer Depression.

Neues Antidepressivum als Nasenspray

Auch wenn bei rund einem Fünftel, der von einer schweren Depressionen Betroffenen, die herkömmlichen Serotonin-Wiederaufnahmehemmer (SSRIs) nicht greifen, wurde lange Zeit kaum etwas Neues entwickelt. Seit kurzem ist die Substanz Esketamin zugelassen und gilt als neuer Hoffnungsträger bei therapieresistenter Depression. Das Narkosemittel Ketamin (in der Drogenszene auch als Vitamin K bzw. Special K bezeichnet), wirkt im Gegensatz zu anderen Antidepressiva binnen Stunden. In Kombination mit den konventionellen Mitteln soll es einen raschen, antidepressiven und antisuizidalen Effekt haben. Die Anwendung erfolgt unter medizinischer Aufsicht. Die Wirkung hält indes nur wenige Tage an, sodass die Gabe anfangs zweimal wöchentlich erfolgen muss.

Psychiatrisch relevante Erkrankung oder Befindlichkeitsstörung

In der Fachwelt herrscht Konsens, dass Antidepressiva und Stimmungsstabilisierer, Antipsychotika und auch Antidementiva zu keiner Abhängigkeit führen. Wohl aber die Substanzgruppe der Anxiolytika und Schlafmittel. Benzodiazepine wie Valium docken an den GABA-Rezeptoren im Gehirn an, führen bereits nach wenigen Wochen zur Gewöhnung und langfristig zur Abhängigkeit. Gerade ältere Personen greifen regelmäßig zu Schlafmitteln, oft auch ohne ärztliche Verordnung.
Während manche in der Gesellschaft eine sinkende Toleranz gegenüber Gefühlen wie Trübsal und Frustration orten, warnt etwa die Stiftung Deutsche Depressionshilfe davor, psychische Erkrankungen als Befindlichkeitsstörungen abzutun. Eine Depression sei mehr als bloße Traurigkeit und eine ernst zu nehmende Krankheit.

Ronny Tekal nimmt in der aktuellen Ausgabe des Radiodoktors mit seinen Gästen die medikamentösen Seelentröster genauer unter die Lupe und klärt, ob am Ende des Regenbogens tatsächlich ein Topf mit Tabletten steht.

Eine Sendung von Dr. Christoph Leprich und Dr. Ronny Tekal

Reden auch Sie mit! Wir sind gespannt auf Ihre Fragen und Anregungen. Unsere Nummer: 0800/22 69 79, kostenlos aus ganz Österreich.


Fragen:
Werde Ihrer Meinung nach zu viele Psychopharmaka verabreicht?
Haben Ihnen Antidepressiva langfristig geholfen?
Welche Nebenwirkungen sind dabei aufgetreten?
Wurden Sie bereits mit dem neuen Esketamin-Nasenspray behandelt?

Service

Sendungsgäste im Studio:

Dr.in Regina Hofer
Psychiaterin, Psychotherapeutin, Kabarettistin
Währinger Straße 15/11
A-1090 Wien
Tel. +43/699/11501735
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Homepage

Assoc.-Prof. Priv. Doz. Dr. Lukas Pezawas
Klinische Abteilung für Biologische Psychiatrie
Universitätsklinik für Psychiatrie und Psychotherapie
Medizinische Universität Wien
Währinger Gürtel 18-20
A-1090 Wien
Tel: +43/1/40400/3568
E-Mail
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Gast am Telefon:

Dr. Andreas Walter
Facharzt für Psychiatrie, Neurologie und psychotherapeutische Medizin, Additivfach Geriatrie
Hernalser Hauptstraße 15
A-1170 Wien - Österreich
Tel: +43/4057575
E-Mail
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Info-Links:

Infos zu Psychopharmaka
Psychopharmaka-Vorräte gegen CoV-Angst voll
Nasenspray gegen Depressionen
Depression: Typisch weiblich? Typisch männlich?
Immer mehr Menschen greifen zu Antidepressiva
Tablette oder Couch?

Bücher:

Gerd Laux, "Psychopharmaka: Ratgeber für Patienten und Angehörige", Springer 2018

Gregor Hasler, "Psychopharmaka - Wirkung, Nutzen, Gefahren: Was Patienten und Angehörige wissen müssen", Beobachter Edition 2020

Peter Ansari, Mahinda Ansari, "Unglück auf Rezept -Die Anti-Depressiva-Lüge und ihre Folgen", Klett-Kotta Verlag 2019

Tom Bschor, "Antidepressiva. Wie man die Medikamente bei der Behandlung von Depressionen richtig anwendet und wer sie nicht nehmen sollte", Südwest-Verlag 2018

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