Paul Celan

ÖNB

Gedanken für den Tag

Cornelius Hell über Paul Celan

"Niemand knetet uns wieder aus Erde und Lehm". Der Literaturkritiker und Übersetzer Cornelius Hell anlässlich des 100. Geburtstages von Paul Celan

"Schwarze Milch der Frühe wir trinken sie abends
wir trinken sie mittags und morgens wir trinken sie nachts
wir trinken und trinken"

So beginnt Paul Celans berühmtestes Gedicht, die "Todesfuge". Er war 24 Jahre alt, als er dieses Gedicht schrieb, das weltweit zu den bekanntesten des 20. Jahrhunderts gehört. Die Musikalität seiner Verse steht in schreiendem Kontrast zu dem, was es zeigt: den KZ-Aufseher, der seine Rüden herbei- und seine Juden hervorpfeift und sie ihr eigenes Grab schaufeln lässt. Dieses Gedicht ist nicht nur ein großes Kunstwerk, sondern vielleicht das erste präzise Zeugnis des Massenmordes an den Juden, der bei der Entstehung der "Todesfuge" im Jahr 1944 noch in vollem Gang war.

Der Mörder im KZ schreibt gleichzeitig an seine Geliebte in Deutschland den Satz:

"dein goldenes Haar Margarethe", und so mündet das Gedicht in die Zeilen:
"dein goldenes Haar Margarete
dein aschenes Haar Sulamith"

Die berühmte Geliebte der deutschen Literatur, das Gretchen aus Goethes "Faust", steht in schreiendem Kontrast zu Sulamith, der Geliebten des Hohen Liedes, die im Krematorium zu Asche verbrannt ist. So genau die "Todesfuge" in all ihren fast dokumentarischen Details auf den KZ-Alltag bezogen bleibt, so sehr führt sie mit der Figur der Sulamith auch in die Hebräische Bibel. Und Paul Celan kannte sicherlich die jüdische Tradition, die das Hohe Lied, dieses sinnliche Liebeslied, als Allegorie der Liebe zwischen Gott und seinem Volk deutet. Doch ob Celan an dieser Stelle auch die Liebe des jüdischen Volkes zu seinem Gott anklingen lassen wollte, muss dahingestellt bleiben.

Immer wieder hat sich Paul Celan in seinen Gedichten auf biblische Texte bezogen. Er war kein gläubiger Jude, doch er wusste um die Nähe von Gedicht und Gebet - auch in seinem Gedicht "Tenebrae", wo er Jesus auffordert, zu den Ermordeten zu beten: "Bete, Herr, / bete zu uns, / wir sind nah". Nach der Shoah war die biblische Überlieferung für Celan ein Leertext, aber ein glühender Leertext, wie er in einem der nachgelassenen Gedichte schrieb.

Service

Paul Celan, "Die Gedichte. Neue kommentierte Gesamtausgabe", Suhrkamp Verlag
Paul Celan, "etwas ganz und gar Persönliches. Briefe 1934-1970", Ausgewählt, herausgegeben und kommentiert von Barbara Wiedemann, Suhrkamp Verlag
Thomas Sparr, "Todesfuge. Biographie eines Gedichts", Deutsche Verlags-Anstalt
Wolfgang Emmerich, "Nahe Fremde. Paul Celan und die Deutschen", Wallstein Verlag
Hans-Peter Kunisch, "Todtnauberg. Die Geschichte von Paul Celan, Martin Heidegger und ihrer unmöglichen Begegnung", Deutscher Taschenbuch-Verlag
Michael Eskin, "Schwerer werden. Leichter sein. Gespräche um Paul Celan. Mit Durs Grünbein, Gerhard Falkner, Aris Fioretos und Ulrike Draesner", Wallstein Verlag
Klaus Reichert, "Erinnerungen und Briefe. Paul Celan", Suhrkamp Verlag
Jan-Heiner Tück, "Gelobt seist du, Niemand. Paul Celans Dichtung - eine theologische Provokation", Herder Verlag
Irene Fußl, "Geschenke an Aufmerksame. Hebräische Intertextualität und mystische Weltauffassung in der Lyrik Paul Celans", Verlag de Gruyter


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Sendereihe

Gestaltung

Übersicht

Playlist

Komponist/Komponistin: Erik Satie/1866 - 1925
Album: Satie : Vol.3 - Frühe Klavierstücke
Titel: Air a faire fuir Nr.3
Gesamttitel: Pieces froides für Klavier Nr.1 - Trois airs a fair fuir
Solist/Solistin: Reinbert de Leeuw /Klavier
Länge: 03:37 min
Label: Philips 420473-2

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