Paul Celan

ÖNB

Gedanken für den Tag

Cornelius Hell über Paul Celan

"Niemand knetet uns wieder aus Erde und Lehm". Der Literaturkritiker und Übersetzer Cornelius Hell anlässlich des 100. Geburtstages von Paul Celan

"Aus der Hand frißt der Herbst mir sein Blatt: wir sind Freunde.
Wir schälen die Zeit aus den Nüssen und lehren sie gehn:
die Zeit kehrt zurück in die Schale."

Mit diesen Zeilen beginnt Paul Celans Gedicht "Corona". Als wir uns in diesem Jahr an das Wort Corona gewöhnen mussten, haben viele an das mexikanische Bier und manche an den Ort Sankt Corona am Wechsel gedacht; mir ist immer nur dieses Gedicht eingefallen. Und das Bild von der unwiederbringlichen Zeit, die sich nicht wie eine Nuss aus ihrer Schale herausschälen lässt.

Viele Interpretationen sind zu diesem Gedicht geschrieben worden, denn schon sein Titel ist vieldeutig: Corona ist der lateinische und italienische Ausdruck für die Fermate, also einen Haltepunkt am Ende einer musikalischen Phrase. Corona kann aber auch Kranz bedeuten - der Kranz für die Geliebte oder der Totenkranz.

Mit beidem ist hier zu rechnen, denn die dritte Strophe beginnt mit der doppeldeutigen Zeile "Mein Aug steigt hinab zum Geschlecht der Geliebten". Das lässt sich erotisch und auf den Körper bezogen deuten, doch Geschlecht kann auch Generation meinen, und die Formulierung steigt hinab, lässt eher an ein Hinabsteigen ins Totenreich denken. Die unvergessliche Verszeile "wir lieben einander wie Mohn und Gedächtnis", von der Paul Celans Gedichtband seinen Titel hat, gilt sowohl der Liebesbeziehung als auch dem Totengedächtnis.

Für Paul Celan, der mit 24 Jahren seine Eltern durch den Holocaust verloren und selbst nur überlebt hat, weil er sich in der Nacht der Verschleppungen verstecken konnte, ist das Gedächtnis an die Toten keine Pflicht, sondern kommt aus Liebe und leidenschaftlicher Trauer. "Mit den Verfolgten in spätem, un- / verschwiegenem, / strahlendem / Bund" - so beginnt eines seiner Gedichte. Und so ist "Corona" ein Liebeskranz und ein Totenkranz - und auch eine Fermate: ein öffentliches Innehalten unter dem großen Zeitdruck, der die letzten Verse prägt:

"Wir stehen umschlungen im Fenster, sie sehen uns zu von der Straße:
es ist Zeit, daß man weiß!
Es ist Zeit, daß der Stein sich zu blühen bequemt,
daß der Unrast ein Herz schlägt.
Es ist Zeit, daß es Zeit wird.

Es ist Zeit."

Service

Paul Celan, "Die Gedichte. Neue kommentierte Gesamtausgabe", Suhrkamp Verlag
Paul Celan, "etwas ganz und gar Persönliches. Briefe 1934-1970", Ausgewählt, herausgegeben und kommentiert von Barbara Wiedemann, Suhrkamp Verlag
Thomas Sparr, "Todesfuge. Biographie eines Gedichts", Deutsche Verlags-Anstalt
Wolfgang Emmerich, "Nahe Fremde. Paul Celan und die Deutschen", Wallstein Verlag
Hans-Peter Kunisch, "Todtnauberg. Die Geschichte von Paul Celan, Martin Heidegger und ihrer unmöglichen Begegnung", Deutscher Taschenbuch-Verlag
Michael Eskin, "Schwerer werden. Leichter sein. Gespräche um Paul Celan. Mit Durs Grünbein, Gerhard Falkner, Aris Fioretos und Ulrike Draesner", Wallstein Verlag
Klaus Reichert, "Erinnerungen und Briefe. Paul Celan", Suhrkamp Verlag
Jan-Heiner Tück, "Gelobt seist du, Niemand. Paul Celans Dichtung - eine theologische Provokation", Herder Verlag
Irene Fußl, "Geschenke an Aufmerksame. Hebräische Intertextualität und mystische Weltauffassung in der Lyrik Paul Celans", Verlag de Gruyter


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Sendereihe

Gestaltung

Übersicht

Playlist

Komponist/Komponistin: Erik Satie/1866 - 1925
Album: Klaviermusik von Erik Satie
* Gnossienne Nr.1 < 1890 > (00:02:42)
Titel: GNOSSIENNES für Klavier Nr.1 - 6
Solist/Solistin: Yitkin Seow /Klavier
Länge: 02:42 min
Label: Hyperion CDA 66344

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