Beate Winkler über die Kunst der Möglichkeit

2. Dezember 2020, 06:56

"Mein Trauma wurde später zu einer großen Ressource für mich", sagte einmal der langjährige Bürgermeister von Amsterdam Ed van Thijn zu mir. Als 7-jähriger Bub wurde er getrennt von seinen Eltern und von der Resistance versteckt. 19 Mal musste er seinen Platz wechseln. Überleben konnte er nur, indem er sich in Windeseile einer vollkommen neuen Umgebung anpasste - egal ob calvinistisch, katholisch oder sozialistisch. Auf keinen Fall durfte er erkannt werden als das, was er war: ein kleiner jüdischer Bub.

Später, erklärte er mir, habe ihm diese Anpassungsfähigkeit als Bürgermeister von Amsterdam mit seiner kulturellen, religiösen Vielfalt enorm geholfen. In Sekundenschnelle konnte er sich in andere Menschen einfühlen und sie verstehen - egal ob Surinamesen, Molukker oder Muslime.

Diese Geschichte hat mir neue Zugangsweisen eröffnet auch zu eigenen Traumata, z.B. meinen Erfahrungen als Flüchtlingskind. Mein Großvater hatte dies gut vorbereitet. Er selbst war acht Jahre im Gulag aufgrund eines Urteils, das die russische Regierung unter Gorbatschow später als Fehlurteil anerkannt hat. Mit 75 Jahren kam er aus Russland ungebrochen zurück. Auf die Frage, wie er denn so ungebrochen hatte überleben können, sagte er: "Wieso? Ich hatte die besten Gespräche meines Lebens."

An diese beiden Begegnungen denke ich immer wieder, wenn ich so richtig im Schlamassel stecke. Auch in existenziell bedrohlichen Erfahrungen können verborgene Schätze liegen. Schätze, die mich weiterentwickeln lassen, mir neue Fähigkeiten schenken oder mir andere Zugangsmöglichkeiten eröffnen. Vielleicht wissen wir erst in einigen Jahren, was Corona neben allem Furchtbaren doch auch an Positivem mit sich gebracht hat. Dass es uns vielleicht sensibler, dankbarer und mitfühlender gemacht hat - unseren Zusammenhalt gefördert, neue Möglichkeiten von Verstehen und Zugang zu Lösungen geschenkt hat. Vielleicht ist es auch etwas ganz anderes.

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• Gedanken für den Tag

Gestaltung

• Alexandra Mantler