Zwischenruf

Ingrid Bachler über den Tag des Judentums 2021

Ingrid Bachler, Oberkirchenrätin der evangelisch-lutherischen Kirche in Österreich, über die Wurzeln des Christentums

Kleine Kinder fragen manchmal: "Was war denn, bevor ich geboren wurde? Wie hat alles angefangen? Auch das Christentum hat mit einer Geburt begonnen, mit der Geburt Jesu in einem Stall in Betlehem, so sehen es viele. Einer Geburt geht etwas voraus. Es gibt ein Davor, eine Geschichte, einen Zusammenhang. Darauf verweist das Wort des Apostels Paulus:

"Nicht du trägst die Wurzel, sondern die Wurzel trägt dich". Das Judentum ist die Wurzel meiner Religion. Ich empfinde sie als starken Grund. Es sind die Überlieferungen des Ersten Testaments, die Geschichten der Frauen, die vom Aufbrechen in Unbekanntes, von Gottvertrauen und Mut zeugen: Frauen wie Judit oder Ester retten vor Jahrtausenden Israel aus der Not und treten damit in die Tradition von Heldinnen wie Debora, der Prophetin und Richterin, ein. Das Buch Rut zeigt, dass selbst eine Ausländerin als gemeinschaftstreu handelndes Vorbild gelten kann.

"Nicht du trägst die Wurzel, sondern die Wurzel trägt dich." Der Apostel Paulus schreibt diesen Satz der jungen Christengemeinde in Rom, etwa um das Jahr 55. In Rom streiten die Christinnen und Christen miteinander: "Wie soll sich das Verha?ltnis zu denen gestalten, die aus der ju?dischen Glaubenstradition kommen und die darin auch bleiben wollen? Soll man alles vergessen, was an Glaubenswissen und Glaubenspraxis aus dem Volk Israel u?berliefert ist?

Das geht gar nicht, sagt Paulus. Jesus ist Jude, er ist im jüdischen Volk beheimatet. Seine Vorfahren, seine innige Beziehung als geliebter Sohn zu seinem Vater im Himmel, sein Beten und seine Botschaft - alles wurzelt tief in der Glaubenstradition Israels. Der Gott, den Jesus verkündet, ist kein "neuer" Gott, sondern der "Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs", so heißt es im Matthäusevangelium. (Mt 22,32).

"Nicht du trägst die Wurzel, sondern die Wurzel trägt dich". Dass Paulus dies so sehr betont, deutet darauf hin, dass es in den ersten christlichen Gemeinden die Tendenz gab, sich gegenüber dem Judentum überlegen zu fühlen. Anstatt ihre Wurzel zu pflegen, meinten die Christen und Christinnen, ohne sie auskommen zu können. Die theologische Verachtung und die gesellschaftliche Abwertung des Judentums schufen über Jahrhunderte hinweg jenen Nährboden, auf dem der Antisemitismus wachsen konnte. Erst seit den Verbrechen der NS-Zeit, der Schoa, hat in den Kirchen ein Umdenken begonnen. Wir sind auf dem Weg, den spirituellen und theologischen Reichtum des Judentums als Fundament unseres eigenen Glaubens neu zu entdecken.

Ein Beitrag dazu ist der jährliche "Tag des Judentums". Was als "Gedenktag" begonnen hat, wurde um einen "Lerntag" erweitert, um einen "Tag des Lernens vom Judentum". In Wiener Schulen und Jugendzentren werden zum Beispiel jüdische Jugendliche eingeladen, um über ihre Religion mit Gleichaltrigen ins Gespräch zu kommen. Entscheidend ist: nicht über das Judentum zu lernen, sondern vom Judentum und besonders mit Jüdinnen und Juden.

Über das Religiöse hinaus sind jüdische Menschen und ihre außergewöhnlichen Leistungen aus unserer Geschichte und Gegenwart nicht mehr wegzudenken. Ich denke an bekannte Namen wie: Alma Mahler-Werfel, Ernst Fuchs, Sigmund Freund und Arnold Schönberg - um nur einige wenige zu nennen.

Sich an die Anfänge zu erinnern ist ein Teil der Erlösung, sagt ein Sprichwort. Wie der Apostel Paulus wusste: "Nicht du trägst die Wurzel, sondern die Wurzel trägt dich".

Sendereihe

Gestaltung

Playlist

Komponist/Komponistin: Moritz Weiß
Album: SPHERES
Titel: Psalm/instr.
Ausführende: Moritz Weiß Klezmer Trio
Ausführender/Ausführende: Moritz Weiß /Klarinette
Ausführender/Ausführende: Niki Waltersdorfer /Gitarre
Ausführender/Ausführende: Maximilian Kreuzer /Kontrabass
Länge: 05:30 min
Label: KunstRäume Records KR17002

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