Cornelius Hell über Kurt Marti

28. Jänner 2021, 06:56

grosser gott:
uns näher
als haut
oder halsschlagader
kleiner
als herzmuskel
zwerchfell oft:
zu nahe
zu klein -
wozu
dich suchen?
wir:
deine verstecke

Dieses Gedicht mit der Überschrift "Großer Gott klein" habe ich im Gedichtband "abendland" des Schweizer Schriftstellers und Theologen Kurt Marti gefunden. Es stellt der Größe Gottes, über die in der Theologie viel reflektiert wurde und die das katholische Kirchenlied "Großer Gott, wir loben Dich" besingt, Gottes Kleinheit gegenüber. Und es erteilt der Gottsuche eine Absage, denn Gott ist in jedem Menschen. Die christliche Überzeugung, dass Gott in Jesus inkarniert, verkörpert ist, überträgt das Gedicht auf jeden Menschen. Und nicht als abstrakte These, sondern eingeschrieben in die Organe des Körpers.

Das Gedicht greift auch eine Vorstellung auf, die philosophisch im Deismus zum Ausdruck kommt und auch in der jüdischen Mystik der Kabbala eine Rolle spielt: dass sich Gott aus seiner Schöpfung zurückgezogen habe. In Kurt Martis Gedicht "Großer Gott klein" hat sich Gott auch zurückgezogen oder eben "versteckt" - aber nicht in irgendein Abseits der Welt, sondern in den Menschen: "wir: / deine verstecke". Ich bewundere die Einfachheit dieses Gedichts, in dem so viele Bilder und Reflexionen zusammenlaufen. Und staune über das Wunder, das mein Körper ist.

Für Kurt Marti ist das Staunen zutiefst mit der Rede von Gott verbunden, wie er in seinen "Notizen und Details" schreibt:

"Gott": sprachlicher Ausdruck des Staunens darüber, dass es auf diesem Planeten Leben gibt, immer noch gibt, und wir teilhaben dürfen an ihm. Aber Kurt Marti lässt es nicht bewenden beim Staunen über die Welt. Religion ist für den politisch bewussten Pfarrer und Poeten immer auch Protest gegen Ausgrenzung und Unterdrückung zugunsten der Interessen des Kapitals. Darum hat er eine Vater-unser-Bitte weitergeschrieben:

Unser tägliches Brot
gib uns heute
damit wir nicht nur
für Brot uns
abrackern müssen
damit wir nicht
von Brotgebern
erpreßt werden können
aus Brotangst
gefügig werden.

Service

Leichenreden. Deutscher Taschenbuch Verlag 2004 (Erstausgabe 1969)
Abendland. Gedichte. Luchterhand Verlag 1984
Heilige Vergänglichkeit. Spätsätze. Radius Verlag 2010
Gedichte am Rand. Niggli, Teufen (Erstausgabe 1963) 1974,
Zärtlichkeit und Schmerz. Notizen. Luchterhand Verlag 1979
Gott Gerneklein: Gedichte. Radius, Stuttgart 2006
Republikanische Gedichte. Luchterhand Verlag 1971
Rosa Loui. Vierzg Gedicht ir Bärner Umgangsschprach. Luchterhand Verlag 1967
Bärndütschi Liebesgedicht. Benteli Verlag 1979
Högerland. Ein Fußgängerbuch. Luchterhand Verlag 1990
Gedichte, Alfabeete & Cymbalklang. Wolfgang Fietkau Verlag 1966
Hannis Äpfel. Gedichte aus dem Nachlass. Wallstein Verlag 2021
Notizen und Details 1964-2007. Wallstein Verlag 2021
Der Alphornpalast. Prosa aus dem Nachlass. Wallstein Verlag 2021
Mein barfüßig Lob. Gedichte. Luchterhand Verlag 1998
Die Psalmen. Annäherungen. Radius Verlag 2004
Fromme Geschichten. Radius Verlag 2004
Gott im Diesseits. Versuche zu verstehen. Radius Verlag 2005
Gottesbefragungen. Ausgewählte Predigten. Hg. v. Andreas Mauz u. Ralph Kunz. TVZ 2020
Von der Weltleidenschaft Gottes: Denkskizzen. Radius Verlag 2011
Ein Topf voll Zeit 1928-1948. Nagel & Kimche Verlag 2008
Wen meinte der Mann? Gedichte und Prosatexte. Reclam Verlag 1990
Klaus Bäumlin (Hrsg.): Kurt Marti: Sprachkünstler, Pfarrer, Freund. TVZ, Zürich 2020
Pierre Bühler; Andreas Mauz (Hrsg.): Grenzverkehr. Beiträge zum Werk Kurt Martis. Wallstein Verlag 2016
Christof Mauch: Kurt Marti. Texte - Daten - Bilder. Luchterhand Verlag 1991
Christof Mauch: Poesie - Theologie - Politik. Studien zu Kurt Marti. Niemeyer Verlag 1992 (=Studien zur deutschen Literatur 118)
Ernst Rudolf Rinke: Der Weg kommt, indem wir gehen. Theologie und Poesie der Zärtlichkeit bei Kurt Marti. Radius Verlag 1990

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Sendereihe

• Gedanken für den Tag

Gestaltung

• Alexandra Mantler