Karl Sigmund über die Göttlichkeit der Mathematik

15. März 2021, 06:56

"Die Mathematik", sagt Galileo Galilei, "ist das Alphabet, mit dem Gott die Welt geschrieben hat." Mit dieser Ansicht hat Galilei nicht einmal im Vatikan Widerspruch erweckt. Was in den folgenden 400 Jahren geschah, hätte ihn nur in seiner Überzeugung bestärkt. In den Naturwissenschaften sind mathematische Methoden heute unerlässlich.

Aber nicht genug damit, dass die Natur in der Sprache der Mathematik geschrieben ist, auch auf die Kultur trifft das immer mehr zu. Und das haben wir Menschen selbst geschaffen, zu einem großen Teil erst in den letzten Jahrzehnten. Mit fortschreitender Digitalisierung wird unsere Zivilisation immer mehr durch die Mathematik geformt.

Keiner von uns kann auch nur ansatzweise überblicken, wieviel an mathematischen Methoden hinter so selbstverständlichem Tun steckt wie etwa: ein Selfie machen, eine Mail versenden, eine App herunterladen, ein Handy benutzen, das Bankkonto abrufen, dem Navi folgen, oder Filme zu streamen. Hierzu werden mathematische Theorien verwendet, wie etwa Signalverarbeitung, Robotik, Graphentheorie, oder Codierung, die in den letzten Jahren spektakuläre Fortschritte erzielt haben.

Mathematik ist überall, Mathematik zum Sehen, zum Hören, zum Greifen: Dank unserer Mathematik können wir schwarze Löcher sehen, wir können Ungeborene hören, wir können Unerhörtes begreifen. Immer mehr gilt der Satz: Der Mensch hat seine Schöpfung in dem Alphabet der Mathematik geschrieben.

Und doch, diese allgegenwärtige Mathematik bleibt versteckt. Ist es nicht sonderbar: Den meisten Menschen sind selbst die Anfangsgründe der Mathematik fremd. Doch wir sollten diesem Fremden mit Zuneigung und Interesse begegnen.
Denn sonst bleiben wir Fremdlinge, Fremdlinge in der Welt, die wir uns selbst geschaffen haben.

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• Alexandra Mantler