Cornelius Hell

Cornelius Hell - ORF/URSULA HUMMEL-BERGER

Gedanken für den Tag

Cornelius Hell über Wolfgang Borchert

"Jesus macht nicht mehr mit". Der Literaturkritiker und Übersetzer Cornelius Hell über den Autor des wichtigsten Theaterstückes der deutschen Nachkriegszeit, anlässlich dessen 100. Geburtstages

Man mutet sich so leichtfertig andern Menschen zu, und dabei kann man sich kaum selbst ertragen. Dieser Satz aus Wolfgang Borcherts Erzählung "Die Hundeblume" lässt mich nicht los, auch wenn ich nicht im Gefängnis sitze wie der Mann, der hier ins Bild gerückt wird. In einem engen Raum mit vier nackten Wänden ist er sich selbst überlassen. Und plötzlich kommt ihm die Erkenntnis: Es ist nicht auszudenken, was alles geschehen würde, wenn sich plötzlich jeder auf das besinnen würde, was er eigentlich ist.

Der Gefangene ist mit sich selbst konfrontiert, auch mit seinem Hass auf den Vordermann beim Marschieren im Hof. Doch er hat einen geheimen Bezugspunkt, der ihn aus dieser tristen Umgebung zu sich selbst führt: eine Hundeblume im Hof. Er pflückt sie und ist plötzlich nicht mehr allein mit seinen zweiundzwanzig Jahren und seiner Hilflosigkeit und kann alles abstreifen, was ihn belastet. Er verbindet sich mit der gelben Hundeblume - mit jener Blume, die ich seit den Wiesen meiner Kindheit als Löwenzahn kenne.

Wolfgang Borchert, der heute vor hundert Jahren in Hamburg geboren wurde, hat das Gefängnis von innen kennengelernt: Als Neunzehnjähriger wurde er erstmals von der Gestapo verhaftet und verhört, im Krieg wurde er wegen staatsfeindlicher Äußerungen zu vier Monaten Gefängnis verurteilt. Als er 1943 wegen Dienstuntauglichkeit an ein Fronttheater abgestellt werden sollte, erzählte er einen politischen Witz, wurde denunziert und erneut verhaftet; allein die Untersuchungshaft dauerte fast neun Monate. Dann musste er noch einmal zurück an die Front und kam 1945 mit Fieberanfällen und Gelbsucht nach Hamburg zurück. Er sollte sich nie mehr davon erholen.

Sein Stück "Draußen vor der Tür" schrieb Wolfgang Borchert innerhalb von acht Tagen im Bett, uraufgeführt wurde es am 21. November 1947 - einen Tag nach seinem Tod. Damit und mit seinen Erzählungen wurde er zum wichtigsten deutschen Autor der ersten Nachkriegsjahre. Wenn ich über sein Leben und seine Person nachdenke, fällt mir eines seiner Jugendgedichte ein:

Ich möchte ein Leuchtturm sein
in Nacht und Wind -
für Dorsch und Stint,
für jedes Boot -
und ich bin doch selbst
ein Schiff in Not!

Service

Michael Töteberg (Hg.), "Wolfgang Borchert. Das Gesamtwerk", Rowohlt Verlag
Wolfgang Borchert, "Draußen vor der Tür und andere Werke", Verlag Reclam
Wolfgang Borchert, "Draußen vor der Tür und ausgewählte Erzählungen", Verlag Rowohlt
Peter Rühmkorf (Hg.), "Wolfgang Borchert. Die traurigen Geranien und andere Geschichten aus dem Nachlass", Verlag Rowohlt
Gordon J. A. Burgess (Hg.) und Michael Töteberg (Hg.), "Wolfgang Borchert. Allein mit meinem Schatten und dem Mond", Verlag Rowohlt
Gordon Burgess, "Ich glaube an mein Glück. Eine Biographie", Aufbau Taschenbuchverlag

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Sendereihe

Gestaltung

Playlist

Komponist/Komponistin: Duke Ellington/1899 - 1974
Komponist/Komponistin: Irving Mills
Komponist/Komponistin: Barney Bigard
Album: JAZZ CAFE - STANDARDS
Titel: Mood indigo/instr.
Solist/Solistin: Sidney Bechet /Sopransaxophon m.Begl.
Länge: 03:15 min
Label: RCA 1263722

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