Oliver Tanzer über Jean de La Fontaine

7. Juli 2021, 06:56

Den heutigen Tag beginnen wir mit Fuchs und Rabe und der Eitelkeit in Wald und Flur und in der menschlichen Natur. Es ist die wohl bekannteste Fabel von Jean de La Fontaine und wird von Millionen Kindern auswendig gelernt und aufgesagt. Hier aber steht nicht die Poesie im Vordergrund, die Fabel soll vielmehr gespiegelt werden in der Eisesglätte der politischen Parkette.

Im Schnabel einen Käse haltend, hockt auf einem Baumast Meister Rabe,
Von dieses Käses Duft herbeigelockt, spricht Meister Fuchs, der schlaue Knabe
Ah, Herr Rabe, guten Tag! Wie nett Ihr seid und von wie feinem Schlag.
Entspricht dem glänzenden Gefieder nun auch der Wohlklang Eurer Lieder,
dann seid der Phönix Ihr in diesem Waldrevier.
Dem Raben hüpft das Herz vor Lust, der Stimme Zier zu künden,
tut er mit stolzem Sinn den Schnabel auf, der Käse fällt dahin.
Der Fuchs nimmt ihn und spricht: Mein Freundchen denkt an mich.
Ein jeder Schmeichler mästet sich vom Fette dessen, der gern auf ihn hört.
Diese Lehre ist euch sicher einen Käse wert.

Seit Generationen nähren Fuchs und Rabe Moraldebatten über List, Betrug und Eitelkeit. Aber vielleicht wollte Jean de La Fontaine uns mehr von Regierungspalästen und Mächtigen erzählen als von Waldlichtungen. Denn ist nicht die Macht des Königs, des Regierenden, des Politikers der Käse im System? Ein Käse, um den sich alles dreht. So dass jede Regierung gleichsam ein Rabenschwarm wird bei Amtseinsetzung, reich bestallt mit Leckerbissen des Volksvermögens, umgeben von Füchsen sonder Zahl, Freunden, Parteigängern und Speichelleckern und Einsagern.

Diese Freunde werden den Mächtigen letztlich die größten Feinde werden. Denn sie lobhudeln den Raben, bis die sich für allmächtig und unfehlbar halten. Und unfehlbar, erstarrt in Programmen und Gesten, intolerant gegen Kritik verlieren sie Glanz und Wahlen. Zuletzt fällt so mancher Phönix dann in die Asche zurück, der er kurz zuvor entstiegen war. Und einsam ist's für die Gefallenen, denn die Füchse sitzen dann schon unter einem andern Ast. Mit weit geöffneten Mäulern.

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Sendereihe

• Gedanken für den Tag

Gestaltung

• Alexandra Mantler