Medizin und Gesundheit

Psychische Langzeitschäden bei Kindern und Jugendlichen durch Lockdown


Lockdown und Homeschooling sind vorbei, die Auswirkungen der Pandemie auf die Psyche von Kindern und Jugendlichen aber noch lange nicht. Die Betten in allen Kinder- und Jugendpsychiatrien in ganz Österreich sind nach wie vor voll, Beratungsstellen nach wie vor viel stärker frequentiert. Nachdem die Schule im Frühjahr wieder begonnen hat, gab es sogar einen neuerlichen Anstieg der Inanspruchnahme von psychiatrischer Hilfe. Außerfamiliäre Strukturen wie Vereine, Schulen und Kindergärten, die normalerweise bei Wesens- und Verhaltensänderungen Alarm schlagen, waren im Lockdown geschlossen und daher wurden einige Probleme erst danach augenscheinlich.

Triage nach wie vor nötig

Viele Kinder und Jugendliche, die eigentlich eine stationäre Aufnahme benötigen würden, mussten und müssen abgewiesen werden. Nur wenn eine akute, lebensbedrohliche Gefährdung im Raum steht, können Betroffene aufgenommen werden. Das wiederrum erhöht den Druck auf die ambulante Versorgung. Und das ist nur die Spitze des Eisbergs.
Denn viele Kinder und Jugendliche nehmen aus Angst vor Stigmatisierung keine professionelle Hilfe in Anspruch. Wie viele Kinder in den vergangenen eineinhalb Jahren tatsächlich psychische Schäden erlitten haben, wird sich erst in den kommenden Monaten zeigen.

Zunahme an Depressionen, Essstörungen und häuslicher Gewalt

Dr.in Gertrude Bogyi, Begründerin und psychotherapeutische Leiterin des Ambulatoriums für Kinder und Jugendliche in Krisensituationen "Die Boje", führt vermehrt auch mit Eltern Gespräche. Denn Kinder berichten von Ängsten, dass sich Vater oder Mutter das Leben nehmen könnten. Die Veränderung des familiären Gefüges aufgrund von Jobverlust und Distance Learning hat laut Bogyi die häusliche Gewalt ansteigen lassen.
Laut einer österreichischen Schülerinnenbefragung sind etwa 55 Prozent von Depressionen und circa 47 Prozent von einer Angststörung betroffen. 16 Prozent berichten von täglichen suizidalen Gedanken, auch Essstörungen haben stark zugenommen.
"Das sind sehr hohe Raten", sagt Univ.-Prof. Dr. Paul Plener, Leiter der Universitätsklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie AKH Wien. Seine Erfahrungen decken sich mit internationalen Studien: Die 15- bis 25-Jährigen sind von den Auswirkungen der Pandemie auf die psychische Gesundheit am stärksten betroffen.

Soziale Kontakte für psychische Gesundheit unumgänglich

Das hängt sicher damit zusammen, dass in dieser Phase der Kontakt zu Gleichaltrigen zu einer geglückten Entwicklung beiträgt. Diese Begegnungsmöglichkeiten waren plötzlich stark eingeschränkt. Die Pubertät ist an sich schon von starken Stimmungsschwankungen und neurobiologischen Umbauvorgängen geprägt. Soziale Kontakte helfen normalerweise, besser damit umgehen zu können. Zusätzlich fielen aufgrund der Schließung von Sportvereinen und Fitness Studios viele Möglichkeiten des sportlichen Ausgleichs weg.

Maßnahmen dringend nötig

Klar ist: Es braucht einen Plan, mit welchen gesamtgesellschaftlichen Maßnahmen ein gesundes Umfeld für Kinder und Jugendliche geschaffen werden kann. Denn der Herbst steht vor der Tür und somit die Frage, wie es weitergehen wird. Gertrude Bogyi und Paul Plener sprechen sich klar gegen neuerliche Schulschließungen aus. Die klinische Psychologin und Psychotherapeutin kritisiert, dass Kinder und Jugendliche zu wenig für ihr Engagement gelobt wurden. Sie hätten die Maßnahmen wie Tests und Schutz-Masken mitgetragen, auf einiges verzichtet und sich so gut wie möglich auf die neue Situation eingestellt. Mit Vorsichtsmaßnahmen und Schichtunterricht soll der Schulbetrieb erhalten bleiben.

Mehr Unterstützung

Gertrude Bogyi plädiert dafür, den Leistungsdruck zukünftig etwas herunterzuschrauben und dafür die soziale Situation der Kinder und Jugendlichen stärker zu berücksichtigen. Denn sie hat mit Kindern gesprochen, die mehr Lern-Unterstützung benötigt hätten, als es im Homeschooling möglich war und daher komplett resigniert haben. Das kann massive Langzeitfolgen haben. Ebenso wie Drogenmissbrauch und Gewalt in der Familie, die während des Lockdowns vermehrt aufgetreten sind.

Mehr Präventions- und Therapieangebote gefordert

Um diese Langzeitschäden möglichst gering zu halten, erfordert es Maßnahmen. Laut Paul Plener benötigt es mehr präventive Angebote und einen besseren Zugang zur Psychotherapie, auch für Menschen, die sich psychotherapeutische Unterstützung selbst nicht leisten können. Gertrude Bogyi schließt daran an - sie wünscht sich mehr kassenfinanzierte Therapieplätze sowie insgesamt ein dichteres Beratungs- und Therapienetz.

Moderation: Univ.-Prof.in Dr.in Karin Gutiérrez-Lobos
Sendungsvorbereitung: Lydia Sprinzl, MA
Redaktion: Dr. Christoph Leprich und Mag.a Nora Kirchschlager

Reden auch Sie mit! Wir sind gespannt auf Ihre Fragen und Anregungen. Unsere Nummer: 0800/22 69 79, kostenlos aus ganz Österreich.

Service

Studiogast im Funkhaus Wien:

Univ.-Prof. Dr. Paul Plener, MHBA
Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Leiter der Universitätsklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie AKH Wien
Währingergürtel 18-20
1090 Wien
Tel.: 01 40400 - 30120
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Gast am Telefon:

Dr.in Gertrude Bogyi
Klinische Psychologin, Gesundheitspsychologin, Psychotherapeutin, Begründerin und psychotherapeutische Leiterin vom Ambulatorium für Kinder und Jugendliche in Krisensituationen "Die Boje"
Hernalser Hauptstraße 15
1170 Wien
Tel.: 01 406 66 02
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Homepage

Anlaufstellen und Infolinks:

Die Boje: Akuthilfe für Kinder und Jugendliche bis 18 Jahre in Krisensituationen
Jugendberatung.at: Therapie & Beratung für Jugendliche nach Bundesland sortiert
Rat auf Draht: Beratung für Kinder und Jugendliche jederzeit - anonym - kostenlos
SOS Kinderdorf: Das Ambulatorium für Kinder- und Jugendpsychiatrie Wien
Instahelp: Psychologen zum Thema Essstörungen in Österreich
Instahelp: Psychologen zum Thema Depression in Österreich
Universität Greifswald: Tipps für Jugendliche gegen Verstimmungen (Depri-Stimmung)
Ärzteblatt.de: Corona und Psyche: Experten mahnen, junge Menschen besonders zu unterstützen
Ärztezeitung.at: Interview Paul Plener: Psychisch krank durch Corona
Medizinische Universität Innsbruck: Corona-Krise: Wie groß ist die Belastung für Kinder und Jugendliche?
Studie der Donau-Universität Krems in Kooperation mit der Medizinischen Universität Wien: Psychische Gesundheit von SchülerInnen während der Pandemie

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