Gertrude Stein

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Gedanken für den Tag

Brigitte Schwens-Harrant über Gertrude Stein

"Mutter und Muse der Moderne". Zum 75. Todestag der Autorin spricht Brigitte Schwens-Harrant, Literaturkritikerin, Buchautorin und Feuilletonchefin der Wochenzeitung "Die Furche"

1858 steigt ein französischer Fotograf, bekannt unter seinem Künstlernamen Nadar, in einen Heißluftballon und fotografiert die Stadt Paris von oben. Es ist ein historischer Moment. Der Blick auf die Erde wird ein anderer. Das Ende der Zentralperspektive, wie sie die Kunst der Renaissance perfektionierte, ist wortwörtlich in Sicht.

"Die Erde entrollt sich wie ein riesiger Teppich ohne Rand, hat weder Anfang noch Ende." So beschreibt Nadar seine Wahrnehmung - und dieser Blick auf eine verflachte Welt wird die Kunst des 20. Jahrhunderts beeinflussen. Der Versuch, Räume möglichst dreidimensional darzustellen, wird im Kubismus flächigen Bildern weichen. Bilder sind keine Abbilder von Wirklichkeit, sondern Farben und Formen auf einer Leinwand.

Künstler wie Pablo Picasso gingen Anfang des 20. Jahrhunderts in der Pariser Wohnung der amerikanischen Schriftstellerin Gertrude Stein ein und aus. Stein kaufte die Bilder noch unbekannter Künstler. Sie war fasziniert von den Versuchen der Kubisten und lernte davon für ihren Umgang mit Sprache. Sie setzte - wie die Kubisten die Farbe - die Sprache in Formen auf das Papier, war interessiert vor allem am Satzbau. "Sie hält Satzscherben aneinander", nannte die Lyrikerin Ulrike Draesner dieses Vorgehen.

Stein durchkreuzte Lese-Erwartungen, sie machte es ihren Leserinnen und Lesern nicht leicht. Ihre sprachlich so irritierenden Werke werden kaum gelesen, aber sie wurde zur "Mutter und Muse der Moderne" und beeinflusste viele Schriftstellerinnen und Schriftsteller nach ihr, von Samuel Beckett bis Friederike Mayröcker. In deren Prosa "Und ich schüttelte einen Liebling" ist Stein von der ersten Zeile an präsent.
"Das neunzehnte Jahrhundert hatte sein Bedürfnis nach einem Modell erschöpft", schrieb Stein, "da die Wahrheit dass die mit den Augen gesehenen Dingen die einzig wirklichen Dinge sind, ihre Bedeutung verloren hatte."

Service

Gertrude Stein, "Picasso. Sämtliche Texte 1909-1938", Verlag Walde und Graf, Zürich 2003
Ulrike Draesner, "Schöne Frauen lesen. Über Ingeborg Bachmann, Annette von Droste-Hülshoff, Friederike Mayröcker, Virginia Woolf u.v.a.", Verlag Luchterhand, München 2007

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Sendereihe

Gestaltung

Playlist

Komponist/Komponistin: Paul Bowles/1910 - 1999
Textdichter/Textdichterin, Textquelle: Gertrude Stein/1874 - 1946
Album: PAUL BOWLES: EIN AMERIKANER IN PARIS - LIEDER, KLAVIERSTÜCKE,KONZERT
Gesamttitel: 5 LIEDER
Titel: Letter to Freddy (tw. 2x gespielt, tw. unterlegt)
Textanfang: My dear Freddy, I did not answer sooner
Solist/Solistin: Jo Ann Pickens /Sopran
Solist/Solistin: Haridas Greif /Klavier
Länge: 01:21 min
Label: Koch Schwann 315742 H1

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