Gertrude Stein

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Gedanken für den Tag

Brigitte Schwens-Harrant über Gertrude Stein

"Mutter und Muse der Moderne". Zum 75. Todestag der Autorin spricht Brigitte Schwens-Harrant, Literaturkritikerin, Buchautorin und Feuilletonchefin der Wochenzeitung "Die Furche"

Was zeichnete die Kunst der Zentralperspektive aus? Man nahm einen Punkt an und von dem aus sah man in den Raum. Raster halfen dabei, das angemessen darzustellen.

Aber der Mensch schaut meist nicht mit einem Auge. Aus zwei Augen setzt sich sein Bild zusammen. Zudem hat er noch andere Sinneswahrnehmungen, er riecht, hört, tastet. Die Zentralperspektive ist eine Illusion.

Der Kubismus versuchte sich der Gefühls- und Bewegungseindrücke zu bedienen, er nimmt gleichzeitig mehrere Perspektiven ein. Bekannt ist das heute, über 100 Jahre später, etwa aus Picassos Bildern. Aus mehreren Blickwinkeln gleichzeitig sieht man ein Gesicht.

Was in der bildenden Kunst längst vertraut ist, führt bei Literatur immer noch zu Kopfschütteln und Abwenden. Paul Cézanne malte zig Ansichten derselben Landschaft. Es gefällt, wenn diese im Museum nebeneinander hängen. Wenn Gertrude Stein aber in ihren Texten seitenlang einen Satz variiert, dann wird das als unleserlich empfunden, immer noch. Es entspricht nicht dem, was man von einer Geschichte erwartet, man tritt scheinbar auf der Stelle. Dabei ändern sich auch hier Kleinigkeiten, finden Verrückungen statt. Gibt es Gleichzeitigkeit verschiedener Perspektiven und absichtliche Unkorrektheiten. Nicht nur in der Zeichensetzung.

Der Mensch braucht Sprache von klein auf zur Verständigung. Er verknüpft das, was gesagt wird, mit Bedeutung. Das gilt auch für die bildende Kunst. Aber sorgten einst Picassos Bilder für Kopfschütteln und Lachen, so sind sie heute als Kunstwerke anerkannt. Bei Sprache ist es schwerer, von der ständigen Suche nach Bedeutung abzusehen und den Blick auf das Material zu richten.

Kinder haben üblicherweise weniger Probleme mit dem Umgang mit Sprache à la Gertrude Stein. Sie wiederholen, ohne zu wiederholen, weil sie variieren, sie spielen mit der Vieldeutigkeit von Wörtern und klopfen damit die Sprache ab und das, was sie konstruiert.

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Sendereihe

Gestaltung

Playlist

Komponist/Komponistin: John Cage
Textdichter/Textdichterin, Textquelle: Gertrude Stein/1874-1946
Album: STORIES - BERIO AND FRIENDS
Titel: Story - 2.Satz aus "Living Room Music" rhytmisches Sprechstück (original für Instrumente nach Wahl und Sprechquartett)
Chor: Theatre of Voices
Leitung: Paul Hillier
Länge: 04:49 min
Label: harmonia mundi USA HMU 8075227

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