Ein Mann hält ein Schild in die Höhe mit 3 Geschlechtsoptionen.

DPA/JAN WOITAS

Medizin und Gesundheit

Varianten der Geschlechtsentwicklung - Über den Umgang mit Intersexualität

Auch wenn man mittlerweile auf amtlichen Formularen neben "männlich" und "weiblich" auch "inter", "divers" oder "offen" ankreuzen kann, ist die Intergeschlechtlichkeit in Österreich nach wie vor ein tabuisiertes Thema. Nach Schätzungen wird hierzulande jährlich etwa eines von 2.000 Babys mit einer geschlechtlichen Diversität geboren, die nicht mit den gängigen Auffassungen von "männlich" und "weiblich" übereinstimmt.

Intergeschlechtlichkeit

Die Inter*Personen weisen körperliche Merkmale beider Geschlechter auf: So entsprechen etwa die Chromosomen, die inneren oder äußeren Geschlechtsorgane nicht alle einem bzw. dem gleichen Geschlecht.
Die häufigste Variante ist das Adrenogenitale Syndrom. Hier kommt es aufgrund eines erblich bedingten Enzymdefektes zur einer endokrinologischen Erkrankung der Nebennieren. Dadurch können unter bestimmten Bedingungen urologische und gynäkolgische Veränderungen bei den betroffenen Mädchen auftreten.
In der Medizin spricht man nach wie vor von disorders bzw. differences of sexual development (DSD) also von "Störungen" bzw. "Besonderheiten" der Geschlechtsentwicklung oder von Intersexualität. Um hier eine Pathologisierung zu vermeiden, werden mittlerweile die Begriffe "Varianten bzw. "Variationen der Geschlechtsentwicklung" (VdG) favorisiert.

Zwischen Hilfestellung und Normierung

Es steht außer Frage, dass es für junge Inter*Personen selbst und deren Eltern oft schwierig ist, mit einer neuen, meist nicht gesellschaftskonformen Situation zurechtzukommen. Nicht zuletzt im guten Glauben, den heranwachsenden Kindern Schwierigkeiten im sozialen Umfeld zu ersparen und eine eindeutige geschlechtliche Identität zu ermöglichen, wurden in den letzten Jahrzehnten operative Eingriffe oder hormonelle Behandlungen an Kindern und Minderjährigen durchgeführt, um die zwischengeschlechtliche Variante zu normieren und in eines der beiden gängigen Geschlechter umzuwandeln. Wenn mitunter auch gut gemeint, haben derartige Eingriffe bei vielen Betroffenen dazu geführt, dass sie ihre nicht-binäre Geschlechteridentität noch schwieriger definieren können.
Die VdG-Spezialambulanz am Wiener AKH bietet Hilfestellungen bei medizinischen Fragestellungen, eine operative Geschlechtskorrektur stehe heute nicht im Vordergrund, so der Pädiater Stefan Riedl. Intergeschlechtlichkeit sei keine Krankheit, so Tobias Humer, Obmensch des Vereins intergeschlechtlicher Menschen Österreich, VIMÖ.

Neues Gesetz verbietet Eingriffe

Seit März 2021 sind in Deutschland nicht notwendige geschlechtsangleichende Eingriffe verboten. Die Eltern von intersexuellen Kindern dürfen damit keine derartigen Operationen an ihrem Nachwuchs vornehmen lassen. Eine Ausnahme besteht bei Lebens- oder Gesundheitsgefahr, bzw. wenn eine Aufschiebung eines Eingriffes bis zur Volljährigkeit nicht möglich wäre.
In Österreich wird an einem derartigen Gesetz gerade gearbeitet. Im Gleichbehandlungsausschuss haben die Parlamentsparteien bereits im Juni einstimmig einen Entschließungsantrag zum Schutz intergeschlechtlicher Kinder vor medizinisch nicht notwendigen Behandlungen beschlossen.

m, w, d, inter oder offen

Wie für alle queere, nichtbinäre Geschlechtsidentitäten besteht die Möglichkeit, dies auch offiziell in den Personaldokumenten ändern zu lassen. 2018 wurde vom Österreichischen Verfassungsgerichtshof das Recht auf Eintragung jenes Geschlechts, das der persönlichen Identität entspricht, anerkannt. Somit haben auch intersexuelle Personen das Recht auf Eintragung ihrer Geschlechtskategorie im Personenstandsregister. Die Begriffe "divers", "inter" oder "offen" stehen zur Verfügung. Weiters ist auch eine Streichung des Geschlechtseintrags möglich. Die Daten über den Geschlechtseintrag können im Zentralen Personenstandsregister auf Antrag geändert werden.

Univ.-Prof. Dr. Manfred Götz beleuchtet mit seinen Studiogästen in der aktuellen Ausgabe des Radiodoktors die Situation intergeschlechtlicher Menschen und die Möglichkeiten, sie in ihrem Lebensweg zu unterstützen, ohne sie normieren zu wollen.

Eine Sendung von Dr. Ronny Tekal und Dr. Christoph Leprich
Moderation: Univ.- Prof. Dr. Manfred Götz


Reden auch Sie mit! Wir sind gespannt auf Ihre Fragen und Anregungen. Unsere Nummer: 0800/22 69 79, kostenlos aus ganz Österreich.


Wie lebt es sich mit einer nichtbinären Geschlechtsidentität in Österreich?

Haben Sie AGS? Welchem Geschlecht fühlen Sie sich zugehörig?

Wurde bei Ihnen als Inter*Person ein operativer Eingriff vorgenommen?

Sollte ein Gesetz geschlechtsangleichende Eingriffe bei Kindern verbieten?

Service

Studiogast im Funkhaus Wien:

Univ.- Doz. Dr. Stefan Riedl
Facharzt für Kinder- und Jugendheilkunde
Leiter der Ambulanz für Varianten der Geschlechtsentwicklung
Universitätsklinik für Kinder- und Jugendheilkunde
Medizinische Universität Wien
Währinger Gürtel 18-20
A-1090 Wien
Tel.: +43/1/40400 59860
E-Mail
Homepage

Gäste am Telefon:

Maria Mayr
Selbsthilfegruppe für Menschen mit adrenogenitalem Syndrom Netzwerk AGS Österreich
E-Mail
Homepage

Tobias Humer
Verein intergeschlechtlicher Menschen Österreich VIMÖ
E-Mail
Homepage

Anlaufstellen, Info-Links und Buch-Tipps:

UNTERWEGS zwischen den Geschlechtern
Zentrum für Beratung, Aufklärung und Begleitung bei Fragen zum Thema Intergeschlechtlichkeit

Plattform Intersex Österreich
Verein intergeschlechtlicher Menschen Österreich VIMÖ
Netzwerk AGS Österreich
VAR.GES Beratungsstelle für Variationen der Geschlechtsmerkmale
Gesetz zum Schutz von Kindern mit Varianten der Geschlechtsentwicklungen (Dt. Bundestag, 2021)
Intersexualität und Transidentität (Österr. Bundeskanzleramt, Bioethikkommission, 2017)
Intersexuell. Ein Leben in der Tabuzone (Planet Wissen, 2020)
Erster europäischer Dachverband von Inter*-Menschenrechtsorganisationen
Die deutsche Vertretung der Internationalen Vereinigung Intergeschlechtlicher Menschen

Elisa Barth, "Inter: Erfahrungen intergeschlechtlicher Menschen in der Welt der zwei Geschlechter", Edition assemblage 2017

Caroline Stern, "Intersexualität: Geschichte, Medizin und psychosoziale Aspekte", Tectum Verlag 2010

Kimberly Zieselman, "XOXY: A Memoir (Intersex Woman, Mother, Activist)", Jessica Kingsley Publishers 2020

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