Ilse Aichinger, 199

APA/DPA/MARTINA HELLMANN

Gedanken für den Tag

Cornelius Hell über Ilse Aichinger

"Aufruf zum Misstrauen". Der Literaturkritiker und Übersetzer Cornelius Hell über die österreichische Schriftstellerin anlässlich deren 100. Geburtstages

"Das Misstrauen gegen den Staat, gegen jeden Staat, Verwaltungsgremien, Ämter, die ziemlich unzugänglichen edlen Bauten, in denen die Ministerien, Behörden, zuständige Kanzleien und Büros, im Kriegsfall sicher auch Stabsbüros, untergebracht sind, begann bei mir früh."

Ich erinnere mich noch genau, wie ich diesen Satz am 20. März 1996 aus dem Mund von Ilse Aichinger gehört habe. Er war der Beginn ihrer Dankesrede für den Großen Österreichischen Staatspreis - in einem dieser edlen Bauten und kaum zu vernehmen, da man die Fenster geöffnet und das Mikrofon vernachlässigt hatte. Aber im Prosaband "Film und Verhängnis" ist sie jetzt nachzulesen.

"Aufruf zum Misstrauen" hieß schon der erste Text, mit dem die 20-jährige Ilse Aichinger 1946 Aufsehen erregte. Damals, ein Jahr nach dem Ende der Nazi-Diktatur und des Zweiten Weltkriegs, war allenthalben von neuem Vertrauen die Rede. Doch Ilse Aichinger wehrte sich gegen den Versuch einer simplen Rückkehr zur Normalität und forderte zum Misstrauen auf - zu einem ganz spezifischen Misstrauen, wie sie präzisiert: "Sie sollen nicht ihrem Bruder misstrauen, nicht Amerika, nicht Russland und nicht Gott. Sich selbst müssen Sie misstrauen!"

Protziges Selbstvertrauen und Misstrauen gegen andere Menschen oder Institutionen gehen heute eine mindestens ebenso stabile Koalition ein wie 1946, und so ist es gut, dass Ilse Aichingers "Aufruf zum Misstrauen" wieder leicht zugänglich ist: in einem zu ihrem 100. Geburtstag erschienenen Buch gleichen Titels, das verstreute Publikationen von 1946 bis zu ihrem Tod 2005 versammelt.

Mit dem Pathos der Zwanzigjährigen lässt Ilse Aichinger ihren "Aufruf zu Misstrauen" in folgende Sätze münden: "Trauen wir dem Gott in allen, die uns begegnen, und misstrauen wir der Schlange in unserem Herzen! Werden wir misstrauisch gegen uns selbst, um vertrauenswürdiger zu sein!"
Für mich wären viele Politiker, Funktionärinnen und Experten vertrauenswürdiger, wenn ich an ihnen eine Spur von Misstrauen gegen sich selbst spüren könnte. Aber ich weiß ja gar nicht, ob ich misstrauisch genug bin gegen mich selbst.

Service

Literatur:

Ilse Aichinger: Werke. Taschenbuchausgabe in acht Bänden, Hg. Richard Reichensperger, Fischer Taschenbuchverlag, Frankfurt am Main 1991
Die Bände sind auch einzeln erhältlich.

Weitere in der Sendung zitierte Werke von Ilse Aichinger:

Ilse Aichinger: Film und Verhängnis. Blitzlichter auf ein Leben. Fischer Taschenbuchverlag, Frankfurt am Main 2003 - enthält die Staatspreisrede vom 20. März 1996 nachzulesen (Der Boden unter unseren Füßen)

Ilse Aichinger: Aufruf zum Mißtrauen. Verstreute Publikationen 1946-2005, Hg. Andrea Dittrich. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2021

Ilse Aichinger: Es muss gar nichts bleiben. Interviews 1952-2005. Hg. und Nachwort von Simone Fässler. Edition Korrespondenzen 2011 (der Band enthält das Gespräch mit Cornelius Hell: Dazwischen ist sehr viel Schweigen)


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Sendereihe

Gestaltung

Übersicht

Playlist

Komponist/Komponistin: Johann Sebastian Bach/1685 - 1750
Album: YO YO MA: THE CELLO SUITES - MUSIK AUS DER SECHSTEILIGEN SERIE VON KURZFILMEN "INSPIRED BY BACH"
* Allemande - 2.Satz (00:03:38)
Gesamttitel: SUITE Nr.2 - THE SOUND OF THE CARCERI / DER KLANG DER CARCERI
Titel: Suite für Violoncello Nr.2 in d-moll BWV 1008
Cellosuite
Solist/Solistin: Yo Yo Ma /Violoncello
Länge: 03:38 min
Label: Sony Classical S2K 63203 (2 CD)

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