Gedanken für den Tag

11. November 2021, 06:56

Nikolai Kirillow ist Architekt, Mitglied einer revolutionären Gruppe in einer russischen Stadt, und: ein seltsamer Mensch. Er sieht eine Spinne an der Wand und ist ihr dankbar, dass sie da kriecht. Die Menschen, sagt er, wären glücklich, wenn sie nur wüssten, dass sie glücklich sind.

Kirillow ist eine berühmte Figur aus Fjodor Michailowitsch Dostojewskijs Roman "Böse Geister" oder "Die Dämonen". Er hat ein gewinnendes Lachen und manchmal einen geradezu kindlichen Gesichtsausdruck. Allerdings sieht er manchmal nicht gesund aus. Er schildert Zustände, die an mystische Erlebnisse erinnern und beschreibt sie als "Sekunden, in denen man plötzlich die Gegenwart der vollständig erreichten ewigen Harmonie fühlt." Dostojewskij, der selbst Epileptiker ist, weiß: Das deutet auf eine beginnende Epilepsie hin. Kirillow aber sagt mit einem stillen Lächeln: "Die Epilepsie kommt zu spät."

Sie kommt zu spät, weil er vorher seinem Leben ein Ende setzen wird. Nicht aus Kummer oder im Wahnsinn, sondern: aus Überlegung. Denn Kirillow ist Nihilist. Er hat erkannt, dass Gott existieren sollte, aber nicht existiert. Gott, sagt er, ist lediglich der Schmerz der Todesfurcht. Wer Schmerz und Furcht überwindet, der erlangt die Freiheit und wird selbst ein Gott. Kirillow erklärt sich bereit, vor seinem Tod schriftlich die Verantwortung zu übernehmen für einen Mord im Verschwörerkreis, den er nicht begangen hat.

Albert Camus preist Kirillow als einen Helden des Absurden und seinen Tod als philosophischen oder pädagogischen Suizid.
Aber der Held stirbt ohne Glanz. Seine letzte Stunde ist qualvoll. Lang steht er im Dunkeln, beißt den, der sein Sterben überwacht, wie ein in die Enge getriebenes Tier, in den Finger. Die großen philosophischen Gedanken und das Leben. Wer, wenn nicht Dostojewskij wüsste, dass das nicht dasselbe ist.

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Sendereihe

• Gedanken für den Tag

Gestaltung

• Alexandra Mantler