Abendlieder von Carmen McRae und George Shearing

23. Jänner 2022, 20:55

"One for the road": Diesen Ausdruck kennen wir für den letzten Drink, bevor es nach Hause geht oder die Sperrstunde weiteren Aufenthalt verunmöglicht. Im Österreichischen gibt es dafür den Ausdruck "Flucht-Achterl". Aus einem Flucht-Achterl werden bekanntlich oft zwei und mehr. Wenn der Aufbruch nach Hause dann gleich von zwei Menschen musikalisch hinausgezögert wird - umso besser. "Two for the Road" - der Titel der heute in den Milestones präsentierten Platte hat also viele Bedeutungen.

1980 finden sich die Sängerin Carmen McRae und der Pianist George Shearing im Aufnahmestudio ein. Sie absolvieren auch eine ausgedehnte Tournee durch Großbritannien, sind also perfekt aufeinander eingespielt. Den Großteil der Stücke legen die beiden balladesk und introvertiert an; ab und zu dürfen wir uns McRae vorstellen, wie sie am Flügel lehnt und ihren Gesang vom großen Kollegen an den Tasten tragen lässt. Es würde aber zu kurz greifen, die Aufnahme bloß als entspannt swingende Abendmusik zu bezeichnen.

Schließlich bergen die Lieder immer auch kleine Schicksalsbeschreibungen in sich, wenn es etwa gleich im Opener "I Don't Stand a Ghost of a Chance With You" heißt, es gebe nicht einmal "den Hauch einer Chance", vom geliebten Gegenüber erhört zu werden. Zehn Songs durchmisst das einzigartige Duo, mit Hingabe, zugleich unmanieriert, manchmal traurig, aber immer erhobenen Hauptes.

Ihre Haltung habe Narben, sei aber ungebeugt, schrieb die New York Times über die 1994 verstorbene Carmen McRae. Das trifft auch auf ihre Stimme zu. Dem blinden Pianisten George Shearing attestierte der Guardian im Nachruf anno 2011, sein Spiel sei "flink und witzig" gewesen. Diese Eigenschaften verhelfen auch "Two for the Road" immer wieder zu einer angenehmen Leichtigkeit. Übrigens: Der titelgebende Song von Henry Mancini steht am Schluss: Er ist also das eigentliche, musikalische Flucht-Achterl.

Gestaltung: Albert Hosp

Sendereihe

• Ö1 Kunstsonntag: Milestones

Gestaltung

• Albert Hosp

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• Jazz