Anna Weidenholzer

LUKAS BECK

Gedanken für den Tag

Anna Weidenholzer über Leben lesen

"Die andere Seite - Über Empathie und ihre Spuren" von Anna Weidenholzer, Schriftstellerin

Eines Tages stand ich lesend an einer Straßenbahnhaltestelle in Breslau, als sich mir ein alter Mann näherte. Ich verfolgte ihn aus dem Augenwinkel, er ging zielstrebig auf mich zu und räusperte sich, bevor er zu sprechen begann. Mein Polnisch reichte nicht, um herauszufinden, was er mir sagen wollte; er redete lauter, ich verstand ihn immer noch nicht; bis er auf mein Buch zeigte, in seine Manteltasche griff und meine Hand mit Süßigkeiten füllte.
Heute wohne ich nahe einer Straßenbahnhaltestelle in Wien. Vielleicht werde ich irgendwann ein ähnliches Verhalten wie jener Mann an den Tag legen. Denn ich wünsche der Welt Bücher, nicht nur, weil ich Autorin bin.

Menschen besitzen die großartige Fähigkeit, Buchstaben in Sprache zu verwandeln, in Bilder in Gerüche, Geräusche, Geschmäcker. Ich bin noch nie in Turin gewesen, und doch meine ich die Via Pallamaglio zu kennen, die längst Via Morgari heißt, den Platz mit dem öffentlichen Bad, über den die Mutter in Natalia Ginzburgs Familienlexikon klagte, es sei elend gewesen, "vom Fenster aus zuschauen zu müssen, wie Männer mit einem Frottierhandtuch unter dem Arm in dieses Bad eintraten." Jede Leserin, jeder Leser kennt solche Orte. Orte, an denen wir uns nie tatsächlich aufgehalten haben, die wir später vielleicht einmal bereisen und mit unseren Leseerfahrungen abgleichen werden, die wir meinen zu kennen, ohne je einen Schritt dort gegangen zu sein.

Geschichten öffnen Türen zu Erfahrungen, die wir selbst nicht gemacht haben. Sie schulen uns in Empathie, indem wir einer Figur in ihre Lebensrealität folgen. Literatur wirft Fragen auf, bringt uns Abgründe, Verletzungen, das Menschsein in all seinen Widersprüchen nahe. Sie führt uns vor Augen, welche Lebensumstände sich hinter einer Statistik verstecken, lässt uns komplexe Zusammenhänge verstehen, erweitert unseren Horizont. Sie zeigt uns Leben.

Service

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Sendereihe

Gestaltung

Übersicht

  • 7 Tage Gesellschaft

Playlist

Komponist/Komponistin: Ludwig Eckmann
Komponist/Komponistin: Maximilian Geller
Vorlage: Ingrid Noll
Gesamttitel: DIE APOTHEKERIN / Original Filmmusik
Titel: Pawel/instr. - tw. 2x gespielt
Orchester: Deutsches Filmorchester Babelsberg
Leitung: Benjamin Köthe
Länge: 01:05 min
Label: Virgin 8450572

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