Zwischenruf

Ingrid Bachler: Zwischen Müßiggang und Aktionismus

Ingrid Bachler ist Oberkirchenrätin der evangelischen Kirche AB

Aufstehen und den Tag beginnen oder gemütlich liegen bleiben. Das ist die Frage, die sich vielen besonders sonntags stellt. Ein Held des Liegenbleibens ist Ilja Iljitsch Oblomow. Freilich nur im Roman, ist "Oblomow" doch nahezu sprichwörtlich geworden für sein Herumliegen, seine Ruhe und seine Lethargie. Das geht sogar so weit, dass es inzwischen die "Oblomowerei" gibt, wenn es ums kunstvolle Ausruhen geht.

Der Dichter dieser unsterblichen Figur ist Iwan Gontscharow. Er beschreibt 1847 in seinem Roman "Eine alltägliche Geschichte" die Desillusionierung eines romantisch gestimmten und idealistischen Jünglings in St. Petersburg.
Ein Dasein im Schlafrock: Der liebenswerte Träumer Oblomow steht für ein zielloses Verdämmern des Lebens. Die Oblomowerei wäre heute längst vergessen. Aber in Folge der Corona-Pandemie und ihrer Maßnahmen, der Quarantäne, sind viele in einen ähnlichen Zustand von Trägheit und Interesselosigkeit gekommen. Was bei Oblomow eine hohe Kunst ist - die Welt bleibt vor der Tür und die Tür bleibt verschlossen - das ist für viele heute eine Belastung. Ihre sozialen Kontakte sind durch die zwei Jahre Corona-Pandemie stark zurückgegangen. So erleben etliche Menschen Tage, an denen sie mit keinem Menschen sprechen.

Auf der anderen Seite sehe ich Menschen und eine große Sehnsucht, die von Machbarkeit und immer neuen Kicks lebt. Sei es Heliskiing, seien es lebensgefährliche Skifahrten durch ungesichertes Gelände oder illegale Autorennen quer durch Europa.
Der Soziologe Hartmut Rosa erklärt das mit einer Soziologie der Weltbeziehung: Alles, was erscheint, muss genutzt, erobert oder beherrscht werden. Berge sind zu besteigen, Orte zu besuchen und zu fotografieren. Das Leben ist zu einer Herausforderung geworden. Das Alltagsleben von uns spätmodernen Menschen in der westlichen Welt besteht zunehmend aus abzuarbeitenden ToDo-Listen, alles wird erledigt, gelöst und absolviert. Das klingt ermüdend und ist es auch. Die Corona-Krise ist für Hartmut Rosa der Beleg, dass das Virus die Selbstbestimmung und Selbstwirksamkeit des Menschen radikal untergraben hat.
Was kann helfen? Ich habe keine Lösung, die allen dient. Aber ich erlebe, dass es hilft, Verantwortung abzugeben. Wenn ich mich aufmache zu Orten, an denen ich Kraft finde. Kirchen zum Beispiel. Hier lasse ich mich vom Evangelium ansprechen und höre: Gott ist mein Verbündeter.

Nicht alle können damit etwas anfangen. Aber egal ob gläubig oder nicht, bleibt es für alle eine Aufgabe, den eigenen Weg zu finden, zwischen Müßiggang und Aktionismus. Mit anderen Menschen darüber ins Gespräch kommen und den Dialog suchen bringt uns einander wieder näher. Ich hoffe auf viele gute Gespräche, wie wir gemeinsam gut und wohlbehalten durch die Pandemie kommen.

Sendereihe

Playlist

Komponist/Komponistin: Peter Iljitsch Tschaikowsky
Titel: Valse - Scherzo in A-Dur op.7 für Klavier
Solist/Solistin: Svjatoslav Richter /Klavier
Länge: 04:19 min
Label: JVC VDC 1068

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