Barbara Maier über Grenzsituation

15. März 2022, 06:56

Wir leben in Situationen, die sich ständig verändern, von uns verändert werden können - oder auch nicht. Dann sind wir ihnen ausgeliefert - in sogenannten Grenzsituationen. In diesen trägt uns das bloße Dasein, jede Form der Ablenkung, nicht mehr. Es geht dann, um unsere Existenz.

Ich befinde mich in einer Grenzsituation:
Wenn ich schuldig geworden bin
Wenn ich einen Fehler gemacht habe
Wenn ich schwer erkrankt bin
Wenn ein naher Angehöriger stirbt, wenn ich selbst sterbe.
Auch wenn ich liebe und geliebt werde.

Grenzsituationen erfahren und existieren ist dasselbe, sagt der Philosoph Karl Jaspers. Der Mensch beginnt in Grenzsituationen nachzudenken. Ihm wird bewusst, dass er Verantwortung hat für das, was und wie es geschieht.
Karl Jaspers denkt das WOHER und das WOHIN unseres Lebens - also über unser Leben, über unser Dasein hinaus, er denkt unsere Existenz in ein sie Umgreifendes hinein, das wir über die Grenzsituationen "erfahren", und zwar durch Leid, Krankheit, Sterben, aber auch in der Liebe, im Kampf und durch Schuld.
Auch ich habe in den letzten beiden Jahren immer wieder solche Grenzsituationen erlebt, als Vorständin der Abteilung für Gynäkologie und Geburtshilfe der Klinik Ottakring. Wir waren von Beginn an im Einsatz gegen die Corona-Pandemie, denn an unserer Klinik wurden und werden schwerpunktmäßig schwangere Frauen und Gebärende, die sich mit dem Virus infiziert haben, behandelt, auch mit schweren Krankheitsverläufen.
Die hohe Zahl der Impfunwilligen und Impfgegner zwingt die Geimpften in eine fortgesetzte Pandemie mit all ihren Folgen. In eine andauernde Grenzsituation. Wo bleibt - so fragen sich viele - die uns rettende Solidarität? Denn Solidarität, das Eintreten füreinander und die wechselseitige Unterstützung sichert unser aller Freiheit und unser friedliches Zusammenleben. Auch jetzt und umso mehr, wenn verzweifelte Menschen aus den Kriegsgebieten in unser Land kommen.

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Gestaltung

• Alexandra Mantler