Hubert Gaisbauer über Aristoteles und das Apfelbäumchen

30. Juni 2022, 06:56

"Wenn ich wüsste, dass morgen die Welt unterginge, würde ich heute noch schnell ein Apfelbäumchen pflanzen", soll Martin Luther einst gesagt haben. Der Satz lässt sich allerdings nicht belegbar bei Luther nachweisen. Trotzdem ist er gut. Wahrscheinlich hat ihn ein Pfarrer, man nimmt an, 1944 erfunden und Luther in den Mund gelegt hat. Mit der Welt stand es damals auch wahrlich nicht zum Besten. "Wenn ich wüsste, dass morgen die Welt unterginge, würde ich heute noch schnell ein Apfelbäumchen pflanzen". Ich erlaube mir, einen Nachsatz hinzu zu erfinden, der da lautet: Vielleicht wird sich Gott dann des Apfelbäumchens erbarmen und die Welt seinetwegen bestehen lassen - und den Menschen mit ihm.
An dem Apfelbäumchensatz gefällt mir auch, dass er etwas Paradiesisch-Schöpferisches an sich hat, etwas von unserer Sehnsucht nach dem guten Leben: vom pflanzen, bebauen, hüten, pflegen. Und schließlich könnten wir ja einmal gescheiter werden - und den ersten Apfel ruhig erwarten und am Baum rotbackig leuchten lassen, statt gleich gierig hinein zu beißen.
"Den Optimismus als Willen zur Zukunft soll niemand verächtlich machen, auch wenn er hundertmal irrt. Dieser Satz klingt zwar durchaus nach Aristoteles, stammt aber von Dietrich Bonhoeffer. Rabbi Johanan ben Zakkai lehrt seine Schüler: Wenn du in deinem Garten bist und hältst einen Setzling in der Hand, um ihn an einem guten Platz einzupflanzen, und sie rufen zu dir: komm eilends, der Messias ist da! - dann setze den Setzling in deinen Garten, und dann gehe hinaus und begrüße den Messias!
Die wirklich Frommen - oder sagen wir die Religiösen - sind ja ins Diesseits geschickt und könnten sich nicht ins Jenseits wegstehlen. Also: Zuerst das Apfelbäumchen, dann der Messias.

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• Alexandra Mantler