Cornelius Hell

Cornelius Hell - ORF/URSULA HUMMEL-BERGER

Gedanken für den Tag

José Saramago

Literaturkritiker und Übersetzer Cornelius Hell wirft Schlaglichter auf das Leben und Werk des portugiesischen Schriftstellers anlässlich dessen 100. Geburtstages

"Es hat nie gefehlt an Leuten, die behaupten, dass die Dichter wahrlich entbehrlich seien; ich aber frage, was würde aus uns allen werden, wenn die Poesie uns nicht hülfe, begreiflich zu machen, wie wenig klar die Dinge sind, die wir klar nennen." Dieser Satz des portugiesischen Literaturnobelpreisträgers José Saramago bringt auf den Punkt, was er selbst mit seinen Büchern wollte: klare Tatsachen und eindeutige Geschichten auffüllen mit Poesie und Fiktion und so Gegen-Geschichten erzählen, Bilder entwickeln, wie es hätte sein können.

Mit seinem Roman "Das Evangelium nach Jesus Christus" hat sich Saramago auf diese Weise den vier Evangelien angenähert - und damit 1991 in Portugal einen handfesten Skandal ausgelöst. Als das Buch 1993 in deutscher Übersetzung erschien, schossen auch hier konservative Christen ihre Pfeile ab gegen diese eigenständige literarische Aneignung des biblischen Stoffes. Dabei haben sie die farbenreiche Poesie in diesem Buch nicht einmal bemerkt.

Saramagos Roman "Das Evangelium nach Jesus Christus" beginnt mit der Beschreibung des Gekreuzigten auf einem Dürer-Gemälde und macht dann das, was sowohl christliche Legenden als auch Künstlerinnen und Künstler schon immer gemacht haben: Er füllt die Leerstellen der Evangelien fantasievoll auf mit imaginierten Szenen. Saramagos Jesus wird von Alpträumen verfolgt, seit er weiß, dass sein Vater Josef vom geplanten Kindermord in Bethlehem erfahren hatte, aber nur ihn, den eigenen Sohn, gerettet, die anderen Eltern hingegen nicht gewarnt hat.

Jesus leidet an dieser Schuld und träumt von seinem Vater als Mörder; er wird diese Alpträume erst los, als er sie seiner Geliebten Maria von Magdala erzählt. Jesus und die Hure - für manche christliche Ohren ist das wohl eine Provokation. Doch die Dialoge von Maria von Magdala und Jesus, die Liebesszenen und die Beschreibung ihres gegenseitigen Verstehens und Verstanden-Werdens werden mit allen Registern großer Erzählkunst gestaltet.

Dabei blitzt auch immer wieder die Ironie des Erzählers durch und hält so das Bewusstsein wach, dass es sich um Fiktion handelt, um eine Erzählung, um Literatur. Dass der Roman keineswegs sagen will, wie es gewesen ist. Ich liebe diese Fiktion wegen der Schönheit ihrer langen und doch so geschmeidigen Sätze. Und weil sie eine Ahnung davon aufblitzen lässt, dass Liebe und Sexualität auch im Umkreis Jesu ein Heimatrecht haben.

Service

Josè Saramago, "Das Evangelium nach Jesus Christus", Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 1993 (nicht mehr lieferbar)
Josè Saramago, "Kain", Hoffmann und Campe. Hamburg 2011
Josè Saramago, "Das Zentrum", Btb 2014
Josè Saramago, "Die Stadt der Blinden", Btb 2015
Josè Saramago, "Das Memorial", Atlantik Verlag 2018

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Sendereihe

Gestaltung

Playlist

Komponist/Komponistin: Traditional
Komponist/Komponistin: Mauro Palmas
Komponist/Komponistin: Elena Ledda
Album: SONOS
Titel: Di la met''ita
Anderssprachiger Titel: Aus meinem Leben
Solist/Solistin: Elena Ledda
Solist/Solistin: Marcello Ledda
Länge: 03:08 min
Label: Biber Records 66391 < Honk Musikverlag >

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