Cornelius Hell

Cornelius Hell - ORF/URSULA HUMMEL-BERGER

Gedanken für den Tag

José Saramago

Literaturkritiker und Übersetzer Cornelius Hell wirft Schlaglichter auf das Leben und Werk des portugiesischen Schriftstellers anlässlich dessen 100. Geburtstages

"Gesegnet seien, die den Aufruhr wählten, denn ihrer wird das Reich sein auf Erden." Dieser Satz - eine Variation auf die Seligpreisung der biblischen Bergpredigt - findet sich im Roman "Kain" des portugiesischen Literaturnobelpreisträgers José Saramago, der auf Deutsch erst erschien, nachdem sein Autor 2010 verstorben war. Ich liebe an diesem Roman das, was mich auch in die übrigen Romana Saramagos immer wieder hineinzieht: die seitenlangen Sätze, deren Dynamik nicht einmal durch die Widergabe direkter Rede abreißt, da sie in den Satzstrom integriert sind, nur ihr Beginn ist durch einen Großbuchstaben markiert. Ich bewundere die Übersetzerinnen und Übersetzer von Saramago für die geschmeidigen und niemals gekünstelten deutschen Sätze.

Im Roman "Kain" ist die biblische Figur ein Aufrührer, der sich mit Gott verbale Duelle liefert - bis zu jenem Aufeinanderprallen der Argumente ganz am Schluss: "Du bist Kain, der wahrhaft Böse, der infame Mörder deines eigenen Bruders, nicht so böse wie du, denk an die Kinder in Sodom." Kain kann so argumentieren, weil er nicht in seiner eigenen Geschichte, wie sie die biblische Vorlage erzählt, gefangen ist, sondern wichtige Stationen der ganzen Hebräischen Bibel durchläuft. Er ist einem "Spiel der wechselnden Gegenwart" ausgesetzt und kann daher aus verschiedensten Situationen und Schichten der Bibel Argumente gewinnen, um Gott zur Rede zu stellen.

Gnadenlos werden dabei die Widersprüche und Ungereimtheiten der biblischen Vorlage aufgedeckt, allerdings ganz ohne religionskritische Verbissenheit, sondern mit Witz und Ironie, die jedoch nie ins Beliebige abgleiten. Und Kain, der Ackerbauer, argumentiert gegen Abraham sehr grundsätzlich: "immer wieder die alte Geschichte, man fängt mit einem Lamm an und mordet am Ende, wen man am meisten lieben sollte".

Hier wird noch einmal deutlich, warum der Opferung eines Lammes in Saramagos Roman "Das Evangelium nach Jesus Christus" so große Bedeutung zukommt. Wer einmal anfängt mit dem Opfern, der ist für Saramago zu allem fähig. Und wer Kain als Urbild des Bösen verfolgt und töten will, ebenso. Saramagos eigenwillige Rehabilitierung der biblischen Figur gibt mir immer wieder zu denken.

Service

Josè Saramago, "Das Evangelium nach Jesus Christus", Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 1993 (nicht mehr lieferbar)
Josè Saramago, "Kain", Hoffmann und Campe. Hamburg 2011
Josè Saramago, "Das Zentrum", Btb 2014
Josè Saramago, "Die Stadt der Blinden", Btb 2015
Josè Saramago, "Das Memorial", Atlantik Verlag 2018

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Sendereihe

Gestaltung

Playlist

Komponist/Komponistin: M.P. Ledda
Komponist/Komponistin: E. Ledda
Komponist/Komponistin: Mauro Palmas
Komponist/Komponistin: Silvano Lobina
Titel: Maremannu
Album: Maremannu
Solist/Solistin: Markus Faller
Solist/Solistin: Riccardo Tesi
Solist/Solistin: Silvano Lobina
Solist/Solistin: Alberto Pisu
Solist/Solistin: Friedemann
Solist/Solistin: Michele Pio Ledda
Solist/Solistin: Mauro Palmas
Länge: 05:03 min
Label: Biber Records 76691

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