Cornelius Hell

Cornelius Hell - ORF/URSULA HUMMEL-BERGER

Gedanken für den Tag

José Saramago

Literaturkritiker und Übersetzer Cornelius Hell wirft Schlaglichter auf das Leben und Werk des portugiesischen Schriftstellers anlässlich dessen 100. Geburtstages

"Es gibt Leute, die schreiben, um geliebt zu werden. Ich schreibe, um zu verstehen." Dieser Satz des portugiesischen Literaturnobelpreisträgers José Saramago drückt sehr gut aus, was mich an seinen Romanen fasziniert - auch ihre Lektüre ist eine Einübung in das genaue Hinsehen und in das Verstehen. Einige seiner Romane sind durch ihre Verfilmung sehr bekannt geworden, so etwa "Der Doppelgänger", der unter dem Titel "Enemy" verfilmt wurde - die Musik aus diesem Film hören Sie am Beginn und am Schluss dieser Sendung.

Mir hat es ein Roman besonders angetan, der vielleicht nicht zu den berühmtesten von José Saramago gehört: "Das Zentrum". Der Titel bezieht sich auf ein Einkaufszentrum in einer namenlosen portugiesischen Stadt. Der 65-jährige Töpfer Cipriano Algor liefert dorthin sein Tongeschirr, bis ihm eines Tages mitgeteilt wird, seine Ware werde nicht mehr benötigt; Plastik verkaufe sich besser. Und sein Vertrag legt fest, dass er die nicht verkauften Produkte zurücknehmen muss.

Cipriano hat keine Arbeit mehr. Er ist am Ende, doch er gibt nicht auf. Den rettenden Einfall hat seine Tochter: Er könnte Nippes-Figuren herstellen und diese dem Zentrum anbieten. Aus einer alten Enzyklopädie zeichnet sie Entwürfe. Die neue Arbeit schafft für Cipriano ungeahnte Probleme, doch er kämpft, und dieser Kampf macht ihn noch einmal jung. Sofar eine scheue Liebe zur Witwe Isaura blüht auf. Doch dann hat Konsumententest ergeben, dass niemand die Nippesfiguren kaufen will; für die Probeproduktion bekommt Cipriano sein letztes Geld.

José Saramago, der Landarbeitersohn, hat in diesem Roman eigene Erfahrungen verarbeitet und ein literarisches Schlüsselwerk über die Transformation von der Handwerks- zur Industrie- und Dienstleitungsgesellschaft geschrieben, die sich in Südeuropa später vollzogen hat als in unseren Breiten. Der Roman ist eine oft ironische Demaskierung der lächelnden, erfolgsorientierten Erbarmungslosigkeit, aber er redet nicht einfach einer Rückkehr zu früheren Gesellschaftsformen das Wort. Seit ich ihn gelesen habe, habe ich nicht nur einen neuen Blick auf die im Schatten sitzenden alten Männer in südeuropäischen Ländern, sondern auch auf die wesentlichen Triebfedern meines eigenen Lebens, auf Liebe und Arbeit.

Service

Josè Saramago, "Das Evangelium nach Jesus Christus", Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 1993 (nicht mehr lieferbar)
Josè Saramago, "Kain", Hoffmann und Campe. Hamburg 2011
Josè Saramago, "Das Zentrum", Btb 2014
Josè Saramago, "Die Stadt der Blinden", Btb 2015
Josè Saramago, "Das Memorial", Atlantik Verlag 2018

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Sendereihe

Gestaltung

Playlist

Komponist/Komponistin: John C. Stewart
Vorlage: José Saramago
Gesamttitel: ENEMY / Original Filmmusik
Titel: After the lights go out
Ausführende: The Walker Brothers /Gesang m.Begl.
Länge: 04:01 min
Label: Milan/Warner 3995492

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