Tagebuch

ORF/URSULA HUMMEL-BERGER

Gedanken für den Tag

Der Jahresbeginn im Spiegel von Tagebüchern

In ihren Tagebüchern äußern sich Schriftstellerinnen, Künstler und Denkerinnen am persönlichsten, darum sind sie eine faszinierende Lektüre, findet Literaturkritiker Cornelius Hell

"Ich weiß nicht, wann in der Geschichte des Menschen das Katastrophengefühl nicht allgegenwärtig gewesen wäre. Gab es eine solche Zeit? Die Bibel erzählt ständig von der Katastrophe, und im Wesentlichen geht es auch in Kunst und Philosophie darum. Der Mensch hat Angst, und seine Angst ist begründet."

Das ist der zweite Eintrag des Jahres 1999 in den Aufzeichnungen des ungarischen Literaturnobelpreisträgers Imre Kertész, die unter dem Titel "Der Betrachter" erschienen sind. Kertész, der als Vierzehnjähriger nach Auschwitz deportiert wurde, weiß, wovon er spricht. Später hat er noch die kommunistische Diktatur und die Niederschlagung des Ungarn-Aufstandes durch die Sowjetunion erlebt; und mit Antisemitismus war er immer wieder konfrontiert.

Ich hingegen lebe, wie viele Menschen in Österreich, die in meinem Alter oder jünger sind, jetzt zum ersten Mal in einem Katastrophengefühl. Schon die Corona-Pandemie war eine unerwartete, massive Erschütterung. Und die so plötzlich steigenden Lebenshaltungskosten erschrecken mich. Aber mehr als alles andere hat der russische Angriffskrieg auf die Ukraine meine, unsere Welt verändert. Wann, wenn nicht jetzt stimmt der Satz von Imre Kertész: "Der Mensch hat Angst, und seine Angst ist begründet."

Seit ich denken kann, war ich noch an keinem Jahresbeginn so unsicher, was kommt und wie es weitergeht. Ich möchte mich keiner billigen Hoffnung hingeben. Eher hilft mir der Satz, den Ilse Aichinger als erste ihrer Aufzeichnungen des Jahres 1956, meines Geburtsjahres, geschrieben hat: "Jeden Tag die Verzweiflung neu erwerben, aus der der Mut kommt." Daran glaube ich: dass die Verzweiflung Mut machen kann. Und würde ich nicht daran glauben - die Menschen in der Ukraine leben es jeden Tag vor.

Schönreden, Verschweigen oder so tun, als ob nichts wäre - das hilft nichts, daraus erwächst keine Kraft. Eher aus der offen ausgesprochenen Verzweiflung. Meine Versuche, für die meinen und für mich ein möglichst gutes Leben aufrechtzuerhalten und meine Arbeit zu machen, gelingen mir nur, wenn ich mir meine Verzweiflung eingestehe und mit anderen teile.

Service

Tagebücher von Samuel Johnson - zitiert nach: Gustav René Hocke: "Europäische Tagebücher aus vier Jahrhunderten. Motive und Anthologie", Fischer Taschenbuch 2980
Susan Sontag, "Ich schreibe, um herauszufinden, was ich denke. Tagebücher 1964 - 1980", Carl Hanser Verlag, München 2013
"Victor Klemperer. Tagebücher 1942", herausgegeben von Walter Nowojski unter Mitarbeit von Hadwig Klemperer, Aufbau Taschenbuchverlag, Berlin 1999
Max Frisch, "Die Tagebücher 1946 -1949. 1966 -1971", Suhrkamp Verlag 1983
Imre Kertész, "Der Betrachter. Aufzeichnungen 1991 - 2001", Rowohlt Verlag 2016
Ilse Aichinger, "Kleist, Moos, Fasane", Fischer Taschenbuchverlag 1991
"Sándor Márai. Tagebücher 7. 1943 - 1944", ausgewählt und aus dem Ungarischen übersetzt von Christian Polzim, herausgegeben von Siegfried Heinrichs, Oberbaum Verlag 2001

Nietzsches Tagebuch und andere autobiographische Schriften. 1856 - 1861
Arthur Schnitzler Tagebuch 1879 - 1931

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Sendereihe

Gestaltung

Playlist

Komponist/Komponistin: Vladimir Cosma
Gesamttitel: Cinema
Titel: Tendre comme le souvenir/instr. / aus dem Film "Montparnasse-Pondichéry"
Solist/Solistin: Alexandre Tharaud
Länge: 02:03 min
Label: PLG Classics 5054197184628 (Doppelalbum)

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