Zwischenruf

Von Atomraketen und der Osterhoffnung

von Stefan Schröckenfuchs, Superintendent der evangelisch-methodistischen Kirche in Österreich

Im September 1983, als der Kalte Krieg gerade auf seinen Höhepunkt zusteuerte, hing das Schicksal der Welt kurzfristig von der Entscheidung eines einzelnen Mannes ab. Oberst Stanislaw Petrow war in der Nacht des 26. September der diensthabende Verantwortliche in einem Luftüberwachungszentrum nahe Moskau, als die Computer den Start einiger US-Atomraketen mit Kurs auf Russland meldeten.

Dass ein amerikanischer Atomschlag stattfinden würde, schien damals aus sowjetischer Sicht sehr wahrscheinlich. Die Reaktion darauf wäre unmittelbar ein atomarer Gegenangriff mit allen verfügbaren Mitteln gewesen. Und zwar noch bevor die gegnerischen Raketen ihr Ziel erreicht hätten.

Oberst Petrow jedoch behielt einen kühlen Kopf. Späteren Angaben zufolge dachte er in diesem Moment nicht etwa an die Millionen möglicher Opfer, die ein Atomkonflikt zwischen Russland und den USA gefordert hätte, sondern an Teelöffel: Niemand würde einen Wassereimer mit einem Teelöffel auslöffeln. Weshalb sollten die USA also einzelne Raketen auf die UdSSR feuern? Ein nuklearer Angriff müsste nach militärischer Logik mit hunderten Raketen gleichzeitig erfolgen. Sicher war er sich in diesem Moment zwar nicht. Dennoch meldete er, seiner Intuition folgend, seinen Vorgesetzten: "Es ist ein falscher Alarm."

Minuten später bestätigten die Systeme seine Einschätzung: Vermutlich täuschte ein von einer seltenen Wolkenformation reflektierter Sonnenstrahl das sowjetische Warnsystem.

Einschätzungen von Militärexperten zufolge, war die Welt niemals der atomaren Vernichtung näher als in dieser Nacht. Wäre die oberste sowjetische Führung über einen Angriff informiert worden, hätte sie die Entscheidung für einen Vergeltungsangriff getroffen, meint etwa Bruce Blair, ehemaliger Direktor des World Security Institute. Im Westen wurde der Vorfall erst Ende der 90er-Jahre bekannt. Petrow hat man für seinen Mut erst spät gedankt.

Die Geschichte von Stanislaw Petrow hat keinen religiösen Hintergrund. Petrow selbst meinte rückblickend bescheiden: "Ich habe nur meine Arbeit getan." Dennoch ist es für mich eine Geschichte, die meine österliche Hoffnung nährt: Weil ein einzelner Mensch im entscheidenden Moment seine Verantwortung erkannt hat und sie auch übernahm, hat nicht die ängstliche, tödliche Logik von Vergeltung und Gewalt gesiegt. Tod und Vernichtung hatten nicht das letzte Wort.

Genau das ist aus meiner Sicht die große Zusage der Osterbotschaft: Dass Tod und Vernichtung nicht das letzte Wort behalten. Die biblischen Autoren begründen diese Hoffnung dabei nicht mit einer vermiedenen Katastrophe. Ihre österliche Hoffnung gründet sich vielmehr auf die Erfahrung, eine Katastrophe miterlebt zu haben. Denn die Hinrichtung ihres Lehrers Jesus von Nazareth war für sie eine Katastrophe und bedeutet das Ende all ihrer Hoffnungen.

Doch nach kurzer Zeit hat sich ihre Hoffnungslosigkeit in eine große Zuversicht verwandelt, die auf der Gewissheit beruht: Jesus, den man ermordet hat, ist nicht tot; er lebt. Tod und Vernichtung haben nicht das letzte Wort. Diese Zuversicht erfüllte sie mit einer ungeheuren Kraft. Es ist eine Zuversicht, die auch mich heute stärkt. Sie fordert auch mich heraus, wie Petrow, Verantwortung zu übernehmen, wo ich gefordert bin. Damit nicht Angst, Vergeltung und Tod das letzte Wort behalten. Sondern das Leben.

Sendereihe

Gestaltung

Playlist

Komponist/Komponistin: Keith Jarrett
Album: BOOK OF WAYS - THE FEELING OF STRINGS / Vol.1
Titel: No.9/instr.
Nr
Solist/Solistin: Keith Jarrett /Clavichord
Länge: 05:11 min
Label: ECM 1344 / 8313962 (2 CD)

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