Sölle und die Politik

18. April 2023, 06:56

"Emanzipation der Frauen" prangt in dicken Lettern auf dem Flugblatt und darunter, wie eine Laufschrift sich wiederholend: "Die Frau liegt immer noch unten."

Es ist eine Einladung zum Gebet. Zum "Politischen Nachtgebet" im März 1971, vorbereitet von Dorothee Sölle. Die evangelische Theologin ist federführendes Mitglied im Arbeitskreis "Politisches Nachtgebet Köln". Von Köln aus verbreitete sich die Idee. Mir selber sind die politischen Nachtgebete zum internationalen Frauentag in Wien in den 1990er Jahren in lebendiger Erinnerung. Die theologische Perspektive und Sprache die Dorothee Sölle geprägt hat, ist vielen Inspiration. Sie reicht weit über das politische Nachtgebet hinaus.

Für Dorothee Sölle ist klar: "Jeder theologische Satz muss auch ein politischer sein." Sölle lässt Gottes Wort in den Alltag kommen. So sehr ihre Theologie politisch und aus der Gegenwart geboren ist, so sehr ist sie in Frömmigkeit und Mystik verwurzelt.

Mystik bedeutet für Sölle eine neue Beziehung zur Welt. Einübung in die Sichtweise Gottes. In ihrem Buch "Mystik und Widerstand" greift Sölle auf das Zeugnis der mittelalterlichen Mystikerin Mechthild von Hackeborn zurück. Für diese bedeutet mystische Einheit der Seele mit Gott, die "Sinne Gottes" zu gebrauchen.

Sölle schreibt: "Gott ruft die Seele auf, die eigenen Ohren und Augen wegzugeben und sich Gottes Ohren und Augen schenken zu lassen. … Gott sieht das, was sonst unsichtbar gemacht wird und keine Rolle spielt. Wer außer ihm sieht die Armen, hört ihren Schrei?"

Für mich als Pfarrerin ist das in all meinem Tun leitend: Politisch in diesem mystischen Sinne zu sein - den Menschen verpflichtet. Den Menschen, die leiden, an den Rand gedrängt, übersehen werden. Sie sind - mit Dorothee Sölle gesprochen - die Lieblinge Gottes.

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• Alexandra Mantler