Solle über die Schuld

19. April 2023, 06:56

Das Christentum stellt die "verrückte" Behauptung auf, dass wir auch an Dingen schuldig sind, an denen wir uns nicht beteiligt haben, an dem Leiden anderer Menschen, das wir nicht verursacht haben.

Ein irritierender Gedanke, den die evangelische Theologin Dorothee Sölle da formuliert. Es gilt die Unschuldsvermutung. Nicht nur dort, wo möglichen Vergehen juristisch nachgegangen wird. Auch in Fragen des Alltags.

Wir reden nicht gerne von Schuld. Das gilt als unproduktiv. Bis in die Kirchen reicht die Schuldskepsis. Die Schuld-Frage wird heute nicht selten ausgespart in Verkündigung und Gottesdienst - man will Menschen kirchlicherseits keine Schuld unterstellen und keine Schuldgefühle einreden.

Was soll das auch sein, diese Schuld an Dingen, an denen wir uns nicht beteiligt haben, von der Dorothee Sölle da spricht? Die vor zwanzig Jahren verstorbene Theologin nennt Beispiele aus der Zeit ihres Wirkens: Den Genuss von Bananen, die von brasilianischen Arbeitssklaven geerntet werden; Kinder, die die Listen der Verkehrstoten in Deutschland anführen, während die Autoproduktion steigt; die Verhungerten in den Slums von Kalkutta.

"Wir sind Kollaborateure der Sünde", schreibt Sölle. Harte Worte. Und doch münden sie in eine befreiende Botschaft: Die christliche Tradition, so Sölle, "sieht den Menschen als schuldfähig an, ja sie erkennt seine Würde darin, dass er schuldig werden kann."

Ich denke, es ist gerade der Blick auf Sündenverstricktheit und Schuldfähigkeit, der uns den Weg aus der Ohnmacht weist. Denn wir sehen: Umkehr ist möglich.

Ich möchte die theologische Rede von der Umkehr wieder neu entdecken. Sie ermutigt mich. Wir gehen nicht als Opfer der Umstände durch diese Welt. Wir können auch anders. Dorothee Sölle beschreibt Umkehr mit: "Das Recht, ein anderer zu werden." Ich habe das Recht, eine andere zu werden - das lässt mich aufatmen.

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• Alexandra Mantler