Die Macht der Erzählung

27. April 2023, 13:00

Anlässlich der Eröffnung der Leipziger Buchmesse, bei der Österreich heuer als Gastland eingeladen ist, stellt Elisabeth Scharang ihren Gästen in dieser Ausgabe von Punkt eins die Frage: Warum erfinden und erzählen wir Geschichten und was machen Geschichten mit uns?

Aus drei unterschiedlichen Positionen analysieren und diskutieren die Poetry-Slammerin Mieze Medusa, die Autorin Olga Grjasnowa und der Sprachwissenschaftler Helmut Gruber die Macht der Erzählung.

In der Antike haben sich Menschen die Fantasie in Form kleiner Wesen vorgestellt, die vor ihren Augen, Nasen und Mündern einen Schirm zwischen Mensch und Außenwelt bilden. "Erst wenn ich meine Vorstellungskraft einsetze, um eine Erzählung zu konstruieren, kann ich mit der Welt in einen Austausch treten", schreibt der argentinische Autor und Übersetzer Alberto Manguel in seinem Klassiker "Eine Geschichte des Lesens", in dem er darüber nachdenkt, warum wir Geschichten brauchen. "Hätten wir nur die Fragmente - ein Geruch, eine Farbe, eine Form, ein Klang - ergäbe das Universum für uns keinen Sinn."

Brauchen wir unsere Einbildungskraft, um mit Krisen fertig zu werden und Geschichten, um unsere Ängste zu vertreiben und unsere Wünsche zu befriedigen? Kann Literatur als Simulation verstanden werden?

"Wir speichern unsere Erfahrungen in Geschichten", sagt der Sprachwissenschaftler Helmut Gruber. Der Universitätsprofessor beschäftigt sich mit Textanalyse und der Frage nach der Form einer Erzählung. Seit den 1970er Jahren gibt es den Zweig der Erzählforschung. Die Formen der Erzählungen, die wir in den letzten zwanzig Jahren über die Kommunikation auf diversen social Media Kanälen entwickelt haben, ist ein Teil davon. "Wir nennen sie ‚Small Stories'", so Helmut Gruber.

Doris Mitterbacher bringt diese "kleinen" Geschichten seit zwanzig Jahren auf die Bühne. Als Rapperin und Spoken Word Performerin tritt sie unter ihrem MC-Namen Mieze Medusa auf und hat maßgeblich Poetry-Slams nach Österreich gebracht. Wie nahe sind sich Dichtkunst und Slam-Poetry? Doris Mitterbacher hat ihren MC-Namen Mieze Medusa in die Prosa mitgenommen und in den letzten drei Jahren zwei Romane veröffentlicht. Ihr jüngstes Buch "Was über Frauen geredet wird" ist eine Erzählung darüber, was wir alles werden und wollen dürfen. Das Narrativ über die eigene Person selbst in die Hand nehmen - dieser Wettkampf der Geschichten findet nicht nur auf der Poetry-Slam-Bühne, sondern auch in der Politik und in der Literatur statt.

"Ich finde spannend, welche Geschichten eine Kultur zulässt und welche Geschichten verlegt werden. Wenn wir zum Beispiel an Gründungsmythen denken und an Geschichten, gegen die wir einfach nicht ankommen", sagt Olga Grjasnowa. In ihrem aktuellen Roman "Gott ist nicht schüchtern" verwebt die in Aserbaidschan geborene und in Deutschland aufgewachsene Autorin Olga Grjasnowa zwei Lebensgeschichten miteinander. Sie erzählt, wie eine junge syrische Frau durch den Krieg aus ihren privilegierten Verhältnissen gerissen wird und sich als eine andere an einem fremden Ort wiederfindet und wie ein syrischer junger Mann unversehens in die syrische Revolution verstrickt wird. "Ich recherchiere sehr gerne" erzählt die Autorin. "Den Prozess des Schreibens selbst empfinde ich oft als anstrengend." Seit März unterrichtet Olga Grjasnowa Sprachkunst an der Universität für angewandte Kunst in Wien. Kann man Geschichten erzählen und schreiben lernen?

Welche Geschichten haben Sie beeinflusst, berührt oder über Jahre verstört? Rufen Sie uns an und reden Sie mit über die Macht der Erzählung unter 0800 22 69 79 kostenfrei aus ganz Österreich oder schreiben Sie uns an punkteins(at)orf.at

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