Marion Mitterhammer ist verträumt

20. Mai 2023, 06:57

"Also Ihre Tochter, die ist ja schon sehr verträumt." Mehrmals hat meine Mutter diesen Satz von der Volksschullehrerin gehört. "Ihre Tochter ist wirklich sehr verträumt und wenn sie nicht aufpasst, dann wird das fürchterlich enden."

Ich war und bin wohl offensichtlich eine Tagträumerin. Ich sehe oder höre etwas und kann oft nicht aufhören, mich darin zu verlieren. Im Psychologie-Lexikon versteht man unter Tagträumen auch Wachtraum, eine Form der Bewusstseinsveränderung und Erweiterung durch innere Bilder und Vorstellungen. Die Aufmerksamkeit von äußeren Sinnesreizen weg auf innere Reize gelenkt, auf Wünsche und Pläne und Assoziationen.

Zum Beispiel sehe ich einen alten, schönen Lindenbaum. Ich denke dann darüber nach, was er wohl schon alles erlebt haben mag: Hitze, Stürme, Wind, Wetter. Ich weiß, dass er 1000 Jahre alt werden, bis 50 Meter hoch werden kann. Die Blätter, die Blätter der Linde sind herzförmig, und die Linde gilt als der Baum der Liebe.

Im 18./19. Jahrhundert war die Linde auch fester Bestandteil der Dichtung. Man denke an Goethe "Leiden des jungen Werthers", "Hermann und Dorothea". Oder man denkt an Schubert: "Am Brunnen vor dem Tore, das steht ein Lindenbaum. Ich träumt in seinem Schatten so manchen süßen Traum. Ich schnitt in seine Rinde, so manches liebe Wort. Es zog in Freud und Leide zu ihm, mich immerfort."

Ach, da fällt sie mir wieder ein, die Frau Lehrerin. Was hat sie gesagt? "Also ihre Tochter, die ist schon sehr verträumt. Und wenn sie nicht aufpasst? Also, das kann fürchterlich enden."

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• Gedanken für den Tag

Gestaltung

• Alexandra Mantler