Feriencamp

24. August 2023, 06:57

Meine Eltern hatten im Sommer in der Landwirtschaft mit der Ernte viel zu tun und es war ihnen recht, wenn wir Kinder eine Zeitlang Ferien machten und sie in Ruhe arbeiten konnten.

So wurde ich ab meinem 9. Geburtstag jedes Jahr für vier Wochen ins Feriencamp nach Italien geschickt. Alles in Italien war anders; heller, heißer, trockener, salziger, wilder. Alles war neu und man musste ganz schön viele Fäden ziehen, um Freundschaften zu schließen, von denen der ganze Spaß eines Sommers abhing.

Im Alter von elf Jahren habe ich dann begonnen, mir für meine Zeit in Italien einen anderen Namen zuzulegen. Doris fand ich langweilig. Inspiriert von einer tollen Roman- oder Filmfigur oder Sängerin, nannte ich mich in den Folgejahren Mel, Vic, Kim, Nena und Charly. Ich war um Galaxien erwachsener und freier. So wie sich der Sommer mit seiner Wärme ausdehnt, so dehnte ich meine Identität, um diese als angehende Teenagerin neu zu entdecken. Ausdehnung heißt ja auch, Verbindung herzustellen. Wer sich dehnt, erreicht den anderen. Die Kunst ist, mit sich selbst in Verbindung zu bleiben und mit dem anderen.

Der Sommer lädt mit seinen Qualitäten dazu ein, aus sich herauszugehen. Und wenn die Tage im Herbst dann kürzer und kühler werden, geht es wieder ans Zusammenziehen, an den Rückzug und sich in eine kargere Struktur einzufinden.

Rainer Maria Rilke schreibt:
Herr: es ist Zeit. Der Sommer war sehr groß.
Leg deinen Schatten auf die Sonnenuhren,
und auf den Fluren lass die Winde los.
Befiehl den letzten Früchten voll zu sein;
gib ihnen noch zwei südlichere Tage,
dränge sie zur Vollendung hin und jage
die letzte Süße in den schweren Wein.
Wer jetzt kein Haus hat, baut sich keines mehr.
Wer jetzt allein ist, wird es lange bleiben,
wird wachen, lesen, lange Briefe schreiben
und wird in den Alleen hin und her
unruhig wandern, wenn die Blätter treiben.

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Sendereihe

• Gedanken für den Tag

Gestaltung

• Alexandra Mantler